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Leseprobe: Im Reich der Langobarden (1. Kapitel) | ||||||
1. Die Zugereisten
Im Februar 537
Auf den Straßen in Vindobona war reges Treiben. Zeitig am Morgen brachten
Bauern und Händler ihre Waren in die Stadt und priesen sie lautstark an. Es
blies ein eiskalter Wind aus der pannonischen Steppe über die Donau.
Schneeflocken wirbelten durch die Luft und verfingen sich in den
schilfbedeckten Dächern der Langhäuser. Die Morgensonne verbarg sich hinter
einem Schleier von Wolken.
„Ihr möchtet bestimmt frühstücken. Was kann ich euch bringen?“, fragte er
betont freundlich.
„Was kannst du mir anbieten?“, wollte Siegbert wissen.
„Der Prinz bevorzugt in der Früh einen Getreidebrei mit getrockneten
Früchten. Ich kann euch welchen bringen.“
Der Koch entfernte sich. Es dauerte nicht lange und er erschien mit einer
gefüllten Schale Brei.
„Ich wünsche euch einen guten Appetit, mein Herr! Ihr könnt noch mehr davon
haben. Lasst es euch gut schmecken!“
„Bring mir bitte noch einen Becher frisches Brunnenwasser!“
„Natürlich, mein Herr!“
Die Gewandtheit des kleinen Mannes gefiel dem Rebellenführer. Er kostete von
den Trockenfrüchten, die der Koch auf den Brei gestreut hatte. Es waren
einige dabei, die Siegbert nicht kannte. Die Rosinen schmeckten ihm am
besten. Genüsslich löffelte er den warmen Brei und sah dem Treiben auf dem
Vorplatz zu. Fuhrleute transportierten das Baumaterial für die Langhäuser
der Jungkrieger heran. Die meisten seiner Rebellen würden darin wohnen. Nur
wenige von ihnen blieben bei den Sippen, mit denen sie von Thüringen nach
Vindobona zogen. Sie hatten ihnen unterwegs geholfen, die beschwerliche
Reise mit den Ochsenkarren durchzustehen. Der eine oder andere fand
Anschluss in einer Sippe und mitunter auch eine Braut.
Der Wirt kam mit einem Krug und Becher zurück und schenkte ein.
„Ihr wart lange nicht da mein Herr. Ich sah euch vor ein paar Jahren im
Gefolge der Thüringer Königin. Wollt ihr diesmal länger bleiben?“, fragte
der Wirt neugierig.
„Es kommt darauf an, wann wir ins Ostgotenreich weiterreisen dürfen“,
antwortete Siegbert unsicher.
„Ich hörte, dass sich dort die Lage nicht verbessert hat. Ich denke, es wird
noch Jahre dauern, bis eure Krieger zu ihrer Königin reisen dürfen.“
„Hast du gehört, wie es ihr geht?“, wollte Siegbert wissen.
„Der Prinz sagte mir, dass sie trotz der Unruhen in Ravenna nichts zu
befürchten hat. Sie steht unter dem besonderen Schutz des Ostgotenkönigs
Witigis.“
Siegbert sah den Wirt skeptisch an.
„Dann brauchen wir uns wohl keine Sorgen machen.“
Der Wirt nickte. Er musste in die Küche zurück und Siegbert sah weiter dem
geschäftigen Treiben auf der Straße zu.
Nach dem Frühstück wollte er zu den Siedlern am Rande von Vindobona reiten,
um nach dem Rechten zu sehen. Er ging zum Pferdestall. Sein weißer Hengst
war in einer der Boxen untergebracht. Eine braune Stute befand sich nicht
weit entfernt und sah aufmerksam zu ihm hin. Nur diese beiden Pferde standen
im geräumigen Stall. Ein Mann striegelte seinen Hengst und redete in
beruhigendem Tonfall mit dem Tier in einer fremden Sprache. Siegbert sah ihm
interessiert zu. Sein Hengst ließ nicht jeden Fremden nah an sich heran,
doch diesem Burschen schien er zu vertrauen.
„Wer bist du?“, fragte Siegbert den Mann.
„Ich bin der Pferdeknecht des Prinzen und betreue seine Rösser.“
„Ich sehe nur eine braune Stute. Wo sind die anderen?“, wollte Siegbert
wissen.
„Mein Herr reitet nur zwei. Meist ist er mit seinem Hengst unterwegs. Die
Stute nimmt er nur für die Jagd. Sie ist eine edle Zuchtstute und ein
Geschenk des Fürsten Audoin.“
„Hat er keine anderen Pferde?“, fragte Siegbert weiter.
„Auf seinem Gut im Süden hat er einen großen Pferdehof. Dort stehen mehr als
100 Tiere von der Rasse deines Hengstes.“
Der Rebellenführer ging zur Box, in der die Stute stand.
„Zu welcher Rasse zählt die Stute?“, wollte er wissen.
„Sie stammt von den Hunnen, so wie ich“, antwortete der Bursche grinsend.
Siegbert sah sich den Pferdeknecht genauer an.
„Du bist also ein Nachfahre der gefürchteten Reiterkrieger aus dem Osten?“,
fragte er prüfend.
„Das bin ich. Mein Urgroßvater hatte im Heer von Attila gekämpft, bis er
verwundet wurde.“
„Was ist ihm passiert?“, fragte Siegbert neugierig.
„Im Gefecht wurde ihm die linke Hand abgeschlagen. Von seinem Vermögen aus
der Beute kaufte er sich ein großes Landgut im Osten Pannoniens, heiratete
und züchtete Pferde.“
„Warum arbeitest du hier und nicht auf eurem Gut?“, wollte Siegbert wissen.
„Wir sind viele Kinder. Der Älteste erbt das Gut und die anderen werden
Knechte oder Krieger. Ich diente beim Fürsten Audoin und er hat mich meinem
neuen Herrn, Prinz Amalafred, weiterempfohlen. So kam ich hierher und achte
auf seine Tiere wie auf meine Augäpfel“, bekannte der Knecht voller Stolz.
Siegbert sah nach einem geeigneten Sattel, die an der Wand hingen.
„Ich werde jetzt ausreiten und die zugereisten Bauern in den Siedlungen
besuchen. Willst du mitkommen?“
„Gern, mein Herr! Die Stute muss ohnehin bewegt werden.“
Der Rebellenführer ritt voraus und der Pferdeknecht folgte ihm auf der
Stute. Sie ritten über den Hof, der sich hinter den Stallungen und Speichern
befand. Siegbert erkannte das renovierte Badehaus, das zusammen mit Teilen
des Verwaltungsgebäudes noch aus der Römerzeit stammte und von den Kriegern
sowie Menschen in den Siedlungen weiter genutzt wurde. Daneben befanden sich
zahlreiche zerstörte Gebäude, denen man nicht mehr ansah, wozu sie einst
dienten.
„Das ist euer Werk!“, sagte Siegbert vorwurfsvoll zu dem Knecht. „Deine
Vorfahren haben nichts Gutes in Vindobona hinterlassen.“
„Es war nicht mein Volk, das diese Zerstörung anrichtete. Die Krieger, die
das taten, waren die Vandalen und Ostgoten. Sie hatten die Römer ein paar
Jahrzehnte zuvor aus Vindobona vertrieben“, erklärte der Knecht.
Siegbert war verwundert über die Geschichtskenntnisse des Hunnen und fragte
ihn, woher er das wusste.
„Mein Herr, der Prinz hat es mir gesagt. Er hat mir auch erklärt, dass das
Volk der Thüringer an der Seite der Hunnen gekämpft hatte.“
Siegbert fragte nicht weiter. Er kannte sich in der Geschichte von Vindobona
nicht gut aus und fühlte sich unsicher.
Nach der Ankunft der Thüringer vor zwei Jahren wurden große Teile des Areals
wieder bebaut. Leben war eingekehrt. Langhäuser für die Thüringer Krieger
entstanden auf den zerstörten Plätzen, wo sich einst die Unterkünfte der
römischen Krieger befanden. Wegen der Unruhen im Ostgotenreich durften die
Thüringer Krieger ihrer Königin nicht nach Ravenna folgen und mussten im
Langobardenreich ausharren. Der Langobardenkönig Wacho war froh darüber,
denn sie stärkten sein Heer bei den jährlich stattfindenden Kriegszügen in
den Süden.
In der Nähe des ehemaligen Befestigungswalls gab es zahlreiche kleine
Behausungen und Werkstätten für Handwerker, Schmiede, Schneider, Töpfer und
andere Gewerke. Sie hatten sich dort angesiedelt. Die Frauen verkauften die
Waren vor der Behausung.
Siegbert bog zum Vorplatz des Verwaltungsgebäudes ab. Dort begann die
Heerstraße, die nach Süden führte. Sie wurde gesäumt von Langhäusern der
Krieger.
Er stieg vom Pferd und sah sich eines der vor zwei Jahren errichteten
Gebäude näher an. Von den Männern war niemand da. Sie befanden sich auf den
Baustellen oder den Kampfplätzen außerhalb des Geländes. Eine junge Frau kam
auf ihn zu und fragte, was er hier wolle.
„Darf ich mir die Behausung ansehen?“
„Das geht nicht! Du musst zuvor den Hunno fragen“, wies sie ihn ab.
Siegbert sah sich um. Er konnte keinen sehen.
„Wo finde ich ihn?“, fragte er höflich.
„Er ist auf einem Übungsplatz vor der Siedlung“, antwortete sie schnippisch.
Siegbert war im Begriff zu gehen, da kam eine ältere Frau auf ihn zu und
fragte: „Bist du nicht der Rebellenführer?“
„Ja, der bin ich!“
„Du darfst jederzeit hier eintreten und kannst dir alles ansehen, was dich
interessiert.“
Mit Schelten versah sie die Jüngere, dass sie nicht erkannt hatte, wer vor
ihr stand. Sie ging Siegbert voran. Der Haupteingang zum Langhaus befand
sich an der Stirnseite des Gebäudes, die an der Heerstraße lag. Das Haus war
in der Mitte geteilt. Der vordere Teil diente den Kriegern zum Wohnen und im
hinteren Teil befanden sich die Speicher sowie Stallungen für Pferde und
Nutzvieh. Eine Haushälterin sorgte mit ihren Mägden für das leibliche Wohl
der Krieger. Etwa fünfzig Männer waren in einem Haus untergebracht und
mussten täglich gut versorgt werden. Es war ähnlich organisiert, wie in den
Rebellenlagern. In der Mitte des Wohnbereichs war die Feuerstelle, die zum
Kochen und Aufwärmen in den kalten Wintertagen genutzt wurde.
Die Haushälterin bot ihrem Gast eine Schale Brei an, der noch vom Frühstück
übrig war. Siegbert lehnte dankend ab. Ihn interessierte, ob sich die
Krieger, die vor zwei Jahren mit der Königin hier ankamen, in den
Unterkünften wohlfühlten. Die Haushälterin versicherte ihm, dass es ihnen an
nichts fehlte.
Zufrieden ritt Siegbert mit dem Pferdeknecht auf der Heerstraße langsam
weiter.
Bevor sie das Lagertor erreichten, sah sich der Rebellenführer die neuen
Langhäuser an, die noch nicht komplett fertiggestellt waren. Sie hatten den
gleichen Aufbau, wie die Älteren. In ihnen würden seine Rebellen gut
untergebracht sein. Siegbert wurde von weitem erkannt und gebeten, sich
alles anzusehen. Mit Stolz zeigten ihm seine Männer, wie weit sie mit dem
Bau voran gekommen waren. Dank der tatkräftigen Hilfe der langobardischen
Bauleute und Handwerker waren viele Häuser bereits bewohnbar. Wo die Dächer
noch nicht vollständig mit Schilf gedeckt waren, standen die Zelte der
Krieger in den Gebäuden und boten Schutz gegen Kälte und Regen.
Mit dem Bau der Langhäuser wurde bereits begonnen als bekannt war, dass die
Rebellen ankommen würden. Gottlieb, der Sekretär seines Bruders Hartwig und
Hedwig hatten diese Botschaft überbracht. Sie waren von Thüringen über
Ratisbona donauabwärts bis Vindobona gereist.
Alle Thüringer waren über die Ankunft der Jungkrieger aus den Thüringer
Bergen erfreut. Sie konnten viel Neues aus der Heimat berichten. Die
Wetterverschlechterung war im letzten Jahr auch in Vindobona zu spüren, doch
durch die südlichere Lage weniger ausgeprägt. Die Sonne zeigte sich nicht
klar am Himmel. Sie war seit vielen Monden von einem Wolkenschleier
verhangen, doch die Temperaturen waren höher als im nördlich gelegenen
Thüringen. Die spärlichen Ernten konnten durch die Lebensmittellieferungen
aus dem Süden ausgeglichen werden. Hier halfen die Kriegszüge Wachos gegen
die südlichen Stämme an der Küste des Mittelmeers. Es waren vom Kaiser
Justinian gebilligte Heerzüge der Langobarden, um die dort lebenden Stämme
zur Räson zu bringen. Sie hatten versucht, sich der kaiserlichen Gewalt zu
entziehen und strebten nach Selbständigkeit. Auf diesen Kriegszügen machten
die Langobarden und verbündeten Thüringer viel Beute. Ein Sieg war ihnen
sicher, da die kleinen Stämme gegen die große Übermacht der Langobarden
keine Chance hatten. Die älteren Kameraden hatten den zugereisten
Jungkriegern ausführlich von den Kämpfen im Süden berichtet. Die jungen
Männer wünschten sich, bald mitziehen zu können und reiche Beute zu machen.
Ein hagerer, finsterer Mann kam auf Siegbert zu. Beide umarmten sich.
„Wie fühlst du dich als ‚Vindobonenser‘ in der neuen Heimat“, fragte ihn
Siegbert.
Mit dem Namen ‚Vindobonenser‘ wurden die Krieger geehrt, die vor zwei Jahren
mit Siegbert nach Thüringen zurückgekehrt waren, um die Rebellen in den
Kampftechniken auszubilden.
„Die Heimat ist für mich dort, wo meine Kameraden sind“, antwortete der Mann
missmutig.
Siegbert bemerkte die Unzufriedenheit seines Rebellenkriegers.
„Dein Trupp hat mich in Thüringen am meisten gedrängt, hierher zu kommen.“
Der Krieger winkte resigniert ab.
„Das schon, doch es hat sich manches hier zum Schlechten verändert.“
Siegbert sah den Mann verwundert an.
„Komm, setz dich nieder und erzähl was dich bedrückt!“
Die beiden Männer nahmen auf einem abseits liegenden Bretterhaufen Platz.
Der Krieger gehörte zu einem Trupp von Siegberts Rebellen, die für besonders
gefährliche Einsätze und als Ausbilder für die Jungkrieger zum Einsatz
kamen. Sie wurden als „Vindobonenser“ bezeichnet, da sie ihre Königin auf
der Flucht bis Vindobona begleiteten und danach mit Siegbert in den
Thüringer Wald zu den Rebellen zurückkehrten. Die Männer waren bei allen
Jungkriegern sehr geachtet.
Der Mann stockte. Er wusste nicht, wie er beginnen sollte.
„Du bist doch sonst nicht aufs Maul gefallen“, ermutigte ihn Siegbert zu
sprechen.
„Wir sind erst vor kurzem in Vindobona angekommen und es kann sein, dass ich
bestimmte Bemerkungen der alten Kameraden falsch verstehe. Einer bezeichnete
uns als Feiglinge, da es uns nicht gelungen war, die Franken aus Thüringen
zu vertreiben. Ich sagte ihm, dass er in seine alte Heimat hätte
zurückkehren können, um uns im Kampf zu unterstützen und nicht hier, wie die
Made im Speck zu leben. Danach kam es zur Schlägerei.“
„Jetzt weiß ich, wo dein blaues Auge herrührt. Habt ihr euch nach der
Prügelei wieder vertragen?“, wollte Siegbert wissen.
„Ich denke nicht! Sie scheinen uns Rebellen zu neiden, dass wir zukünftig
ein Stück von der Kriegsbeute abbekommen werden.“
Siegbert verstand den Mann. Er hatte mit solchen Zerwürfnissen zwischen den
alten und zugewanderten Kriegern gerechnet. Dass sie so frühzeitig
ausbrachen, verwunderte ihn.
„Du musst deinen Zorn begraben. Ihr seid ein Volk und nur geeint können wir
stark sein und überleben“, redete er dem Vindobonenser zu.
Der Mann ließ sich nicht beschwichtigen.
„Hast du gesehen, wie sie gekleidet sind? Wie die Langobarden, mit weißen
Strümpfen und Lederbändern. Sie sind von den Kriegern des Wacho kaum zu
unterscheiden. Es ist eine Schande, dass sie ihre Herkunft derart
verleugnen.“
„Beruhige dich, mein Freund. Die Langobarden sind unser Brudervolk. Wir
unterscheiden uns nur wenig von ihnen.“
„Deshalb müssen wir doch nicht aussehen, wie sie“, rief der Krieger laut,
dass andere auf der Baustelle sich nach ihnen umsahen.
„Ich werde darüber nachdenken. Jetzt muss ich weiter. Ich will noch zu den
Bauern, die mit uns hierher zogen“, sagte Siegbert und stand bedächtig auf.
Die Männer umarmten sich kurz und Siegbert ritt mit seinem hunnischen
Begleiter durch das Südtor aus dem Militärlager. Die Unstimmigkeiten
zwischen den Kriegern beunruhigten ihn.
Hinter dem Lagertor konnte Siegbert einige verstreute Siedlungen der Bauern
sehen. Wo sich die Zugereisten befanden, war nicht zu erkennen. Es hatte
aufgehört zu schneien. Im Schritt ritt der Rebellenführer mit dem
Pferdeknecht die alte Heerstraße entlang. Tiefe Spuren der Wagenräder hatten
sich in die Pflastersteine gegraben. Ansonsten befand sich die Straße in
einem guten Zustand. Sie erreichten eine kleine Siedlung an einem Bach. Auf
dem Hof war ein Mann damit beschäftigt, Brennholz zu spalten. Er hörte mit
der Arbeit auf als er die Reiter sah.
„Sind hier zugereiste Thüringer untergebracht?“, fragte der Rebellenführer.
Mürrisch entgegnete der Mann: „Hinter dem Haus leben welche von ihnen in
Zelten.“
Siegbert ritt am Langhaus vorbei und sah hinter dem eingezäunten Garten
mehrere Zelte stehen. Als die Leute den Rebellenführer erkannten, winkten
sie ihm freudig zu. Er wurde von dem Sippenältesten in ein großes Zelt
gebeten. Während der Reise hatte er öfter an seinem Feuer gesessen und über
die Zukunft gesprochen.
„Wie geht es dir?“, begrüßte er den Mann, der so alt wie sein verstorbener
Vater sein musste.
„Es geht uns gut!“, antwortete er und bot seinem Gast einen Platz am offenen
Feuer an.
„Habt ihr genug zu Essen und Brennholz zum Heizen?“, wollte der
Rebellenführer wissen und sah sich flüchtig um.
„Es ist für alles gesorgt. Aus Carnuntum kamen Beamte, die auf den
mitgeführten Wagen Lebensmittel und Futter für die Tiere an uns verteilten.
Das Holz für die Feuerstelle dürfen wir im nahegelegenen Wald schlagen.“
„Dann seid ihr zufrieden, wie ich sehe?“, hinterfragte Siegbert und sah
kritisch in das Gesicht des alten Mannes.
„Wir können nicht klagen. Es geht uns besser als in der Heimat und wenn wir
noch ein Stück Land bekommen, auf dem wir Getreide anbauen können, fehlt uns
nichts mehr. Alles haben wir nur dir zu verdanken. Das werden wir dir nie
vergessen.“
Die Umstehenden nickten ihrem Sippenältesten zu.
„Es stehen euch noch mühevolle Tage bevor. Wenn ihr das Land habt, müsst ihr
Haus und Stallungen bauen und die Äcker bestellen. Das ist viel Arbeit“,
bemerkte Siegbert.
„Wir sind es gewohnt zu arbeiten. Zuhause haben wir auch den Boden mit
unserem Schweiß getränkt, damit er fruchtbar wurde“, bemerkte der Alte.
„Ich sehe, ihr seid zuversichtlich. Das freut mich. Jetzt werde ich noch ein
paar andere Siedlungen besuchen und nach dem Rechten sehen.“
Siegbert stand von seinem Schemel auf und reichte dem Sippenältesten die
Hand.
„Leb wohl, junger Freund! Möge dich Thor auf allen deinen Wegen beschützen
und dir Kraft verleihen.“
Siegbert und der Hunne ritten zur Straße zurück. Sie machten kurz Halt bei
dem Mann auf dem Hof, der mit Holzspalten beschäftigt war.
„Bist du der Bauer des Hofes?“, fragte er ihn.
Mürrisch knurrte der Mann etwas in seinen langen Bart, das nicht zu
verstehen war.
„Wie kommst du mit den Zuwanderern zurecht?“
„Gegen die Leute habe ich nichts, doch dass der Fürst sie füttert, ohne dass
sie dafür bezahlen und arbeiten müssen, finde ich ungerecht.“
„Sie sind erst ein paar Tage hier und haben auf ihrer langen Reise alle
Lebensmittel und Futter für die Tiere aufgebraucht. Sollen sie verhungern?“,
entgegnete Siegbert.
„Mich fragt auch keiner danach, wenn die Ernte schlecht ist und der Zehnt
für den König entrichtet werden muss. Im letzten Jahr habe ich wegen des
schlechten Wetters nur halb so viel geerntet als in den Jahren zuvor und
niemand hat mich unterstützt. Der Winter ist noch nicht vorbei und ich habe
das gesamte Saatgut aufgebraucht, um nicht mit meiner Familie zu verhungern.
Wer wird mir neues Korn zum Aussäen geben? Vielleicht der Fürst?“
Siegbert erkannte die Verbitterung in den Worten des Mannes und ritt stumm
weiter. Er suchte noch zwei weitere Siedlungen auf, bei denen sich
Zugereiste befanden. Dort war die Situation entspannter. Die Höfe gehörten
Thüringern, die einst mit ihrer Königin die Heimat verlassen hatten und sich
hier niederließen. Sie zeigten großes Verständnis für die Nöte ihrer
Landsleute und unterstützten sie, wo es möglich war. Die Bauern berichteten
Siegbert von der schlechten Ernte im letzten Jahr. Die
Wetterverschlechterung war auch hier an der Donau zu spüren. Sie mussten
Vieh verkaufen, um mit dem Geld bei den Händlern Getreide zu erwerben. Die
Preise stiegen stark an, denn auch im Süden des Langobardenreichs war die
Ernte geringer ausgefallen als in den Jahren zuvor. Trotzdem blieben sie
zuversichtlich und klagten nicht. Der Zustand in der Heimat betrübte sie und
sie waren froh, damals den Entschluss zur Auswanderung gefasst zu haben.
Siegbert hielt sich nicht lange auf und ritt mit dem Pferdeknecht zurück
nach Vindobona. Ihm ging vieles durch den Kopf und es wurde ihm klar, dass
der Neuanfang für seine Landsleute nicht leicht sein würde.
Das Wetter hatte sich inzwischen verschlechtert. Als sie die Therme
erreichten, übergab Siegbert dem Knecht die Zügel seines Pferdes, und bat
ihn, es in die Box zu bringen.
Zur Entspannung besuchte er die Therme, die zur späten Mittagszeit noch leer
war. Der Bademeister erklärte ihm, dass die Krieger erst in den Abendstunden
nach Dienstschluss kommen würden.
Die Wärme im heißen Wasser tat ihm gut. Es war der Ort, wo er in Ruhe über
vieles nachdenken konnte. Ihm wurde bewusst, dass der Neuanfang für die
Thüringer Bauern sich schwieriger gestalten würde als angenommen. Die
Wetterverschlechterung war auch in Vindobona in abgeschwächter Form zu
spüren. Damit hatte keiner gerechnet. Alle glaubten in ein sonniges Land zu
reisen, wo es gute Böden gibt und die Sonne den ganzen Tag scheint. Das war
nicht so und damit mussten sie sich abfinden. Einige von ihnen gaben
Siegbert die Schuld. Er hatte sie schließlich hierher geführt.
Die Beamten des Fürsten Audoin hatten auf einem Pergament mögliche Plätze
für neue Siedlungen eingezeichnet und sie dem Rat der Thüringer
Sippenältesten übergeben. Im Thing sollte das Los darüber entscheiden, wer
welche Ackerflächen bekommen soll. Dem stimmten alle zu und warteten
ungeduldig auf den Tag, an dem die Verteilung stattfinden sollte.
Siegbert hatte sich aus allem herausgehalten. Einige Bauern gaben ihm die
Schuld, dass sie auf der Reise viele Tiere schlachten mussten und jetzt
nicht wussten, wie sie von neuem beginnen konnten. Diese Nachrede nahm er
ihnen übel. Er hatte keinen der Bauern aufgefordert mit ihm nach Süden zu
ziehen oder irgendetwas versprochen. Sie hatten sich dem Zug der Rebellen
freiwillig angeschlossen, weil sie keine Chance zum Überleben im besetzten
Thüringen sahen. Notgedrungen hatte er zugestimmt, dass sie sich den
Jungkriegern auf der Reise anschließen durften. Nach Ankunft in Vindobona
hatte die Mehrheit der Übersiedler ihm im Thing den Vorsitz im Rat der
Sippenältesten angeboten. Er lehnte ab. Sie wählten dann einen aus ihren
Reihen. Trotzdem gingen ihm die Belange der Bauern und Handwerker nicht aus
dem Sinn und wenn ihn jemand um Hilfe bat, war er bereit sich für ihn
einzusetzen.
Der Bademeister kam zu ihm an den Beckenrand und fragte, ob er gern massiert
werden möchte. Siegbert stimmte zu und folgte dem Mann zu einer hölzernen
Massagebank. Ein großes Leinentuch war darüber ausgebreitet. Siegbert legte
sich bauchseits darauf. Der Bademeister goss ihm aus einer Kanne ein wenig
Öl auf die Haut und begann die Schultern zu massieren.
„Warum seid ihr nicht in Carnuntum mein Herr?“, fragte er neugierig.
„Ich muss mich um die zugereisten Jungkrieger kümmern“, entgegnete Siegbert.
„Die Heerschau des Fürsten wird bestimmt wieder prächtig sein. Jedes Jahr um
diese Zeit veranstaltet er sie bis zum nächsten Vollmond.“
„Warst du schon einmal dort?“, wollte Siegbert wissen.
„Leider nicht! Ich muss jeden Tag im Badehaus nach dem Rechten sehen, doch
ich höre mir gern die Erzählungen der Krieger an, wenn sie zurückkommen.“
„Was sagen sie?“, fragte Siegbert neugierig.
Der Bademeister lachte kurz auf.
„Jeder rühmt sich, der Beste zu sein. In Wettkämpfen stehen sie sich
gegenüber und die Sieger bekommen einen Teller oder Pokal aus Silber, den
sie allen herzeigen können“, berichtete der Bademeister und klopfte Siegbert
auf die Schulter, damit er sich auf den Rücken legte.
„Wird der König auch dort sein?“, wollte der Rebellenführer wissen.
„Ich glaube nicht! In den Wintermonaten bleibt er lieber in seiner Residenz
am See Pelso und genießt die Therme, die sich nicht weit von seiner Residenz
befindet.“
Siegbert hatte schon von seinem Bruder Hartwig gehört, dass Wacho die
römische Badeanlage ausbauen ließ.
Die Massage tat ihm gut. Der Rebellenführer spürte, wie sich sein Körper
erholte. Die Last der letzten Wochen hatte er nicht bewusst wahrgenommen. Es
blieb ihm keine andere Wahl als die Strapazen der beschwerlichen Reise
durchzustehen. Jetzt konnte er ausruhen und sich erholen. Die Verspannungen
in seinen Schultern lösten sich. Zuversichtlich sah er der Zukunft entgegen.
Die Verantwortung für all die Leute, die sich seinem Zug angeschlossen
hatten, war ihm genommen. Die Bauern und Handwerker befanden sich in der
Obhut der Langobarden. Ihre Verwaltung war ausgeprägter als die der
Thüringer. Sie hatten vieles von den Römern übernommen. Die Nachkommen
römischer Sklaven und Krieger besiedelten zum Großteil das Land beidseits
der Donau. Sie überstanden die Hunnenherrschaft und die späteren Besetzungen
durch verschiedene germanische Stämme. Auch die Langobarden konnten ihnen
nicht viel anhaben.
Nach dem Besuch der Therme lief Siegbert durch das Handwerkerviertel und sah
den Leuten bei der Arbeit zu. Mit viel Geschick fertigten sie Waren des
Alltags und boten sie vor dem schilfbedeckten Lehmhaus zum Verkauf an.
Besonders beeindruckten ihn die Schmieden, die auch Gegenstände des
täglichen Bedarfs herstellten. Sie versahen ihre Waren mit kunstvollen
Ziselierungen, wie sie bereits ihre Vorfahren in der Heimat verwendeten.
Es wurde bald dunkel.
„Bring mir von dem, was so gut duftet“, sagte Siegbert und der Wirt ging
schmunzelnd in die Küche.
Bald darauf erschien eine Magd und servierte ihm eine gebratene Schweinshaxe
auf einem Holzbrett. Eine zweite Magd kam mit einem Krug verdünntem Wein und
frischem Brot. Mit seinem Messer schnitt er einen Streifen der Schwarte ab
und kostete. Sie schmeckte so gut, wie sie roch und aussah. Genussvoll
verzehrte er das Fleisch. Es war mit Knoblauch gespickt, ein Gewürz, das er
bisher nicht kannte. Anerkennend nickte er dem Wirt zu, der sich über das
Lob freute und mit einem Lächeln erwiderte. Nach dem Essen fragte Siegbert
den Wirt nach dem Gewürz. Der brachte aus der Küche einen ganzen Strauß
zusammengebundener Knoblauchzwiebeln. Eine davon brach er auf und reichte
eine Zehe davon seinem Gast. Eine zweite nahm er selbst in den Mund und
zerkaute sie genüsslich. Siegbert folgte seinem Beispiel.
Er riss die Augen weit auf. Die Schärfe war unerträglich.
Der Wein konnte das Brennen nicht lindern. Schmunzelnd reichte ihm der Wirt
ein Stück Brot.
„Zerkau es! Das hilft am besten gegen das Brennen im Mund.“
Er hatte recht und Siegbert nahm danach noch einen großen Schluck aus seinem
Becher.
„Ich esse täglich eine rohe Zehe. Das hilft mir gesund zu bleiben“, erklärte
der Wirt und sah nach den Gästen, die seine Wirtsstube betraten.
Es waren Krieger, die man an ihrer Kleidung erkannte. Alle trugen lange
Bärte und weiße Wadenwickel wie sie bei den Langobarden üblich sind. Sie
setzten sich an eine der beiden langen Bänke im Gastraum und schrien laut
nach Bier. Die Mägde kamen mit vollen Kannen und Bechern geeilt und
schenkten ein. Der lockere Umgang zwischen ihnen und den Männern ließ
Siegbert vermuten, dass es Stammgäste waren. Einer von ihnen stand plötzlich
auf und ging zu Siegberts Tisch.
„Wenn ich mich nicht irre, bist du Siegbert?“, fragte er lächelnd.
„Der bin ich und wer bist du?“
„Wir waren zusammen in der Leibgarde unseres Königs Herminafrid. Ich bin
Adalwin. Wir beide hatten öfters vor den königlichen Gemächern Wache
gehalten.“
Siegbert sah den Krieger eine Weile an und begann sich zu erinnern.
„Ich hätte dich nicht wiedererkannt. Dein langer Bart lässt dich älter
erscheinen. Wie geht es dir?“
„Ich bin jetzt Hunno bei dem thüringischen Heerhaufen“, antwortete der
Kamerad aus früheren Jahren. Er befehligte als Hunno nun einhundert Krieger.
„Dann unterstehst du direkt Prinz Amalafred?“, wollte Siegbert wissen.
„Das nicht! Der Gaugraf Gunnar wurde von der Königin zum Hauptmann der
Thüringer bestimmt und der gibt hier den Ton an“, erklärte der Hunno.
„Werdet ihr bei den Kriegszügen nicht vom Prinzen angeführt?“, bemerkte
Siegbert erstaunt.
„Das schon, doch hier im Lager gilt, was der Hauptmann sagt. Der Prinz ist
die meiste Zeit beim Fürst Audoin in Carnuntum und kommt nur zum Jagen nach
Vindobona. Er kümmert sich wenig um unsere Belange“, erklärte Adalwin
gesenkten Hauptes.
„Das klingt als würdest du es bedauern“, sprach Siegbert zu ihm.
Adalwin nickte.
„Die meisten mögen den Hauptmann nicht. Er ist rechthaberisch und
ungerecht“, flüsterte Adalwin seinem Freund zu.
„Weiß der Prinz davon?“, wollte Siegbert wissen.
„Keiner von uns würde es wagen, sich bei ihm zu beschweren. Es käme einem
Todesurteil gleich. Wir sind froh, dass der Hauptmann jetzt bei den
Wettkämpfen in Carnuntum weilt. Er hält sich gern im Kreis des Fürsten auf
und muss immer wieder von dem Kampf der Thüringer gegen die Franken
berichten. Angeblich war er dabei als unser Heer an der Unstrut vernichtend
geschlagen wurde“, antwortete der Freund.
Die Magd brachte unaufgefordert einen leeren Becher und schenkte Bier ein.
„Lange kann ich nicht bleiben. Meine Kameraden warten auf mich und wollen
mit mir die Geburt meiner Tochter begießen. Du kannst dich gern zu uns
setzen und mitfeiern“, bot Adalwin dem Rebellenführer an.
„Ein anderes Mal, lieber Freund. Ich gedenke länger in Vindobona zu bleiben.
Wir sehen uns bestimmt bald wieder.“
Beide stießen mit ihren Bechern an und leerten sie in einem Zug aus.
Siegbert bezahlte und ging nach Hause. Das Leben auf den Straßen war
verstummt. Die meisten Handwerker hatten ihre Waren in die Häuser und Hütten
gebracht und die kleinen Fenster mit Rindshäuten gegen den kalten Wind
abgedeckt. Der fahle Schein des Mondes spendete ein wenig Licht. Es reichte,
um den Weg zu finden. Siegbert ging zu den Pferdeställen und sah nach seinem
Hengst. Der Pferdeknecht schreckte auf. Er hatte sich im Stroh schlafen
gelegt. Alles war in Ordnung und zufrieden ging Siegbert zu seiner Kemenate.
Licht war durch die Tür zu sehen. Jemand hatte Feuer im Kamin gemacht und
die Kuhhaut vor die Fensteröffnung gezogen. Die Wärme tat Siegbert gut. Er
legte ein paar Holzscheite nach und sah dem Spiel der züngelnden Flammen zu.
Seine Gedanken wanderten in die Thüringer Berge und zu seiner verstorbenen
Frau Brunhilde. Die Kräuterfrau wahrsagte ihm, dass er sie am Zielort
vergessen würde, doch das Weib musste sich geirrt haben. Der Schmerz über
den Verlust war nicht gewichen. Seine Liebe zu ihr blieb ungebrochen. Über
seine Zukunft wollte er die Runensteine befragen. Aus der Gepäcktruhe kramte
er den Lederbeutel mit den Holzstücken hervor. Die Runenzeichen waren auf
einer Seite eingeritzt. Plötzlich hielt er inne. Er war sich unsicher, ob er
die Hölzer werfen sollte. Was könnten sie ihm sagen? Manchmal war es besser,
nicht zu wissen, was der nächste Tag bringt. Unschlüssig wog er die Hölzer
in den Händen und warf sie hoch. Sie fielen zu Boden und neugierig
betrachtete er die Lage der Zeichen zueinander. Sie sagten ihm für die nahe
Zukunft nur Gutes. Zufrieden packte er die Runenhölzer zurück in den Beutel
und legte sich schlafen. Ein Waldkauz war zu hören. Ein anderer antwortete
ihm. Es war, als würden sie sich miteinander unterhalten. Sein Vater
erzählte ihm, dass diese Vögel eine Verbindung in das Reich der Hel
herstellen könnten. Sie waren oft zu hören, wenn jemand verstarb.
Am nächsten Morgen ging Siegbert nach dem Frühstück in die Kanzlei. Sie
befand sich ebenerdig im gleichen Gebäude, in dem sich seine Kemenate
befand. Es war das Prinzenhaus, die ehemalige römische Principia. Im
Obergeschoß befanden sich die Kemenaten und Zimmer für Prinz Amalafred und
seine Gäste. Ebenerdig befand sich die Kanzleistube gegenüber dem
Küchentrakt. Langobardische Beamte taten dort ihren Dienst und verwalteten
im Auftrag von Fürst Audoin die Belange der Thüringer. Sie sorgten für die
öffentliche Ordnung, verteilten das freie Land an die zugereisten Bauern und
stellten sicher, dass ausreichend Lebensmittel und Futter für die Haustiere
an sie verteilt wurden. Die Verwaltung erfolgte ganz im Sinne des Fürsten.
Er hatte in allem das Sagen. Die Geschäfte übertrug er einem Oberschreiber,
dem in Vindobona mehrere schreibkundige Angestellte unterstanden. Sie waren
auch dafür zuständig, die Steuern bei den Bauern und Handwerkern
einzutreiben. Die ersten drei Jahre blieb jeder neu angesiedelte Bauer und
Handwerker von der Steuer befreit. Danach galten die Regeln wie für die
Alteingesessenen.
Siegbert fragte nach dem Oberschreiber Lucius und ein Angestellter, der
hinter einem Schreibpult stand, begleitete ihn zu seinem Vorgesetzten. Der
Beamte kannte den Rebellenführer, der ihn bei der Ankunft der Thüringer in
Vindobona mit Rat und Tat unterstützte.
„Wie geht es dir, mein Freund? Hast du dich in Vindobona eingelebt?“, fragte
der Oberschreiber und bat den Rebellenführer zu sich an den Tisch zu kommen.
Vor ihm lag ausgebreitet ein großes Pergament, auf dem die Donau von der
Enns bis Vindobona mit ihren Zuflüssen zu sehen war. Farbige Flecken
markierten die freien Flächen für neue bäuerliche Ansiedelungen. Sie lagen
alle an einem Fluss oder Bach und waren mit einer fortlaufenden Nummer
versehen.
„Wann soll die Verlosung stattfinden?“, wollte Siegbert wissen.
„Schon morgen werden sich die Sippenältesten versammeln und das Los
entscheidet über das Land, das jeder bekommen wird. Streit dürfte es keinen
geben, denn eure Götter wachen darüber.“
Lächelnd sah der Oberschreiber zu Siegbert.
„Du glaubst bestimmt nicht an Odin und Thor. Gibt es Götter an die du
überhaupt glaubst?“, fragte Siegbert und sah den Langobarden verständnislos
an.
„Ich stamme von den Römern ab. Noch vor dem Hunnensturm zogen die meisten
von uns weg. Meine Sippe blieb und überstand ohne größeren Schaden die
darauffolgende Zeit. Unser Glaube hat sich inzwischen gewandelt. Einst
beteten wir zu Jupiter dem Göttervater und seiner Frau Juno. Wichtig waren
auch der Gott des Meeres Neptun und der Kriegsgott Mars. Aber auch die
Göttin der Weisheit Minerva und die Liebesgöttin Venus durften wir nicht
vergessen. Wenn wir einer der Gottheiten huldigten, hatten wir ein
schlechtes Gewissen, dass eine andere Gottheit zu kurz kam. Das änderte sich
mit dem Christengott. Er herrscht allein. Die Regeln sind einfach zu
befolgen und überall auf der Welt finden wir Gleichgesinnte, mit denen wir
uns gedanklich austauschen können. Du solltest auch zu diesem Glauben
wechseln. Er bringt große Vorteile.“
Siegbert verzog das Gesicht.
„Unsere Königin glaubt an deinen Christengott. Ihr Gemahl war stets im
Zwiespalt, für welchen Glauben er sich entscheiden sollte. Letztendlich
haben ihn seine alten Götter im Stich gelassen und der Christengott stand
ihm nicht hilfreich zur Seite. Ich denke, man sollte seine Überzeugung nicht
einfach wegwerfen, nur weil man sich einen Vorteil davon verspricht“,
antwortete Siegbert.
„Vielleicht hast du recht mein junger Freund. Solange der Herrscher jedem
seinen Glauben lässt, mag das angehen. Doch nicht alle sind so tolerant, wie
unser König Wacho, der jedem seinen Glauben lässt.“
„Woran wird er selbst glauben?“, wollte Siegbert wissen.
„Das weiß keiner. Die einen sagen, er glaubt, wie du, an die germanischen
Götter und andere sagen, er wäre ein Christ. Ich denke, er ist ein Christ,
da er zwischen den beiden mächtigsten Männern, dem oströmischen Kaiser
Justinian und dem Frankenkönig Theoderich, balanciert.“
Siegbert bestätigte diese Vermutung: „Das denke ich auch. Diese Herrscher
bestimmen das Geschehen in der Welt.“
Eine Magd brachte eine Schale getrockneter Früchte und Tee für die Herren.
Der Oberschreiber rollte das Pergament zusammen und forderte Siegbert auf
zuzugreifen.
„Es sind getrocknete Früchte aus dem Süden“, sagte Lucius und langte in die
Schale.
Zögerlich folgte Siegbert seinem Beispiel. Viele der Köstlichkeiten kannte
er nicht.
„Wie war das Wetter im letzten Jahr in Pannonien?“, fragte der
Rebellenführer den Oberschreiber.
„Wahrscheinlich nicht anders als bei euch in Thüringen, nur ein bisschen
milder. Die Donau führte lange Zeit Hochwasser und ganze Landstriche waren
überschwemmt. Die Bauern zogen nach Süden und siedelten sich südlich des
Sees Pleso an. Dort schien die Sonne häufiger und die Ernte war ergiebiger
als in den nördlichen Gebieten.“
Der Oberschreiber rollte ein Pergament mit einer Karte vom Langobardenreich
auf. Er strich mit einem Stück weißer Kreide über die eingezeichneten
Siedlungen und Höfe nördlich der Donau, die seines Wissens nicht mehr
bewohnt waren.
Siegbert nickte ihm bestätigend zu.
„Die meisten der Bauern sind nach Westen zu den Franken gezogen und nun
beginnen die Slawen vom Osten her in unser Reich einzudringen. In ihrer
Heimat sind die Bedingungen zum Überleben noch schlechter als in den
verlassenen Gebieten unseres Reiches“, erklärte der Oberschreiber.
„Stellen die Slawen eine Gefahr dar?“, wollte Siegbert wissen.
„Das wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Besonders die Awaren sind
nicht zu unterschätzen. Wir hatten bereits mehrere Einfälle in den
Grenzregionen“, berichtete Lucius.
„Da kommen meine Jungkrieger zur rechten Zeit, um sie abzuwehren“,
entgegnete Siegbert.
Lucius erkannte die Begeisterung seines Gegenübers.
„Das trifft zu, doch die Kampfkraft der Awaren ist nicht zu unterschätzen.
Sie sind flink und zäh, wie die Hunnen und kennen kein Erbarmen.“
Siegbert winkte ab.
„Die Franken waren auch keine Schwächlinge. Ich denke, dass wir es gut mit
ihnen aufnehmen können.“
Lucius goss Tee nach und nahm sich eine Handvoll Trockenfrüchte.
„Unser König wird entscheiden, was mit ihnen geschieht. Fürst Audoin hat in
Carnuntum eine große Kriegerschar unter Waffen und wird uns hoffentlich vor
einem Awaren-Sturm beschützen können. Den Einfall der Hunnen kenne ich nur
vom Hörensagen. In meiner Familie kursieren haarsträubende Geschichten über
deren Grausamkeit.“
Siegbert schwieg zu diesem Thema. Die Thüringer mussten einst an der Seite
der Hunnen kämpfen und mancher der Altvorderen hatte die Gewohnheiten der
Hunnen angenommen.
Lucius erzählte von seiner Familie, die bei Carnuntum eine Villa bewohnte.
Er besaß in der Nähe ein Gut und belieferte das Heerlager in Carnuntum mit
Gemüse und Früchten. Es ging ihm und seiner großen Sippe gut. Unter der
Herrschaft der Langobarden war es ihm möglich, die römischen Traditionen und
den christlichen Glauben wieder aufleben zu lassen. Dafür war er König Wacho
sehr dankbar.
Die Zeit war schnell vergangen und Siegbert verabschiedete sich. Lucius gab
ihm die Schale mit den übrig gebliebenen Trockenfrüchten mit. Frohgemut ging
er zu seiner Kemenate.
Eine Magd war damit beschäftigt den Holzboden auf den Knien zu schrubben.
Bei genauem Hinsehen erkannte er Hildegard. Sie war nach dem Tod seiner Frau
Brunhilde, wie ein Schatten in seiner Nähe. Unaufdringlich war sie zur
Stelle, wenn er sie brauchte. Auf der großen Reise kochte sie für ihn und
wusch seine Kleidung.
Nach der Ankunft war sie jedoch auf einmal verschwunden.
„Hildegard, was machst du hier?“, fragte Siegbert.
Die Frau stand auf und sah erschöpft den Rebellenführer an.
„Ich bin als Magd eingestellt worden.“
„Warum bist du nicht in einem der Langhäuser unserer Jungkrieger als
Wirtschafterin?“, fragte Siegbert verwundert.
„Der Hauptmann hat entschieden, dass nur von ihm ausgewählte Frauen
Wirtschafterin in den neuen Häusern sein dürfen. Deshalb hatte ich beim
Oberschreiber nachgefragt, ob ich im Herrenhaus als Magd arbeiten darf.“
„Du hättest mich ansprechen sollen, ich hätte dir helfen können“, sagte
Siegbert verwundert.
„Der Hauptmann ist ein sturer Brocken. Der geht nicht von seiner Meinung
ab“, erklärte Hildegard.
„Er ist jetzt in Carnuntum, doch wenn er zurückkommt, werde ich mit ihm
reden. Du hast schon im Rebellenlager für die Jungkrieger gesorgt, dann
sollst du es auch hier tun dürfen.“
„Bemühe dich nicht! Ich bin mit der Arbeit hier zufrieden“, sprach Hildegard
leise.
„Hast du mir gestern Abend den Kamin angeheizt?“, wollte Siegbert wissen.
„Ja, das war ich und wenn du erlaubst, würde ich dich gern weiter versorgen,
wie auf unserer Reise“, bot sich Hildegard an.
„Natürlich erlaube ich es. Tu, was du für richtig hältst!“
Hildegard nahm den schweren Scheuereimer und drehte sich zur Tür um.
„Ich werde später mit meiner Arbeit fortfahren, damit ich dich nicht störe“,
sagte sie und verließ eilig die Kemenate.
Bevor Siegbert etwas erwidern konnte, war sie verschwunden.
Siegbert war verärgert, dass der Hauptmann sich in Belange einmischte, die
seine Jungkrieger betrafen. Er hatte kein Recht dazu. Zumindest hätte er mit
ihm vorher darüber sprechen müssen. Wenn der Hauptmann aus Carnuntum
zurückkommt, wollte Siegbert die Angelegenheit mit ihm klären.
Missgestimmt ging Siegbert in die Therme. Seine Laune verbesserte sich in
dem heißen Wasserbecken. Die Römer hatten diese Einrichtung einst errichtet
und dafür war er ihnen dankbar. Seine Gedanken kehrten in die Heimat zurück.
Unvorstellbare Strapazen hatten er und seine Leute auf dem Weg hierher
hinnehmen müssen. Die Verluste waren für viele Sippen groß. Er verlor seine
Schwippschwägerin auf der Reise. Sie wurde wahrscheinlich von seinem
ehemaligen Sklaven ermordet. Wie wird die Zukunft aussehen? Die
Runenhölzchen hatten ihm gestern Abend nur Gutes angezeigt. Ob er sie
richtig gedeutet hatte?
Ganz sicher war er sich nicht.
Der Bademeister riss ihn aus seinen Gedanken. Er fragte, ob er massiert
werden möchte. Gern ließ er sich von den kräftigen Händen durchwalken.
Nach dem Bad sattelte er sein Pferd, um noch ein paar Siedlungen mit
zugereisten Bauern zu besuchen. Auf der Paradestraße, die nach Süden führte,
kam er an den neuen Langhäusern seiner Krieger vorbei. Einer winkte ihm zu.
Es war Adalwin. Siegbert stieg vom Pferd und ging auf ihn zu.
„Hast du schon gegessen?“, fragte Adalwin.
„Ich esse nur zweimal am Tag, Frühs und abends“, entgegnete Siegbert.
„Mach eine Ausnahme! Unsere Wirtschafterin hat eine Suppe gezaubert, an die
du dich noch lange erinnern wirst.“
Beide Männer gingen zum Kessel und rochen. Die Frau reichte ihnen Holzlöffel
zum Kosten. Adalwin hatte nicht übertrieben. Die Suppe schmeckte
hervorragend. Siegbert ließ sich eine Schale davon geben und setzte sich zu
seinem ehemaligen Kameraden auf die Bank.
„Du hast nicht übertrieben. Nie aß ich eine köstlichere Suppe“, lobte er die
Köchin.
„Ich habe es dir gleich gesagt, dass sie unübertrefflich ist. So etwas Gutes
gab es bestimmt nicht in euren Rebellenlagern.“
Siegbert nickte Adalwin bestätigend zu.
„Das ist wahr. Die Kost war einfach. Oft mussten wir uns hungrig schlafen
legen.“
„Erzähle mehr davon!“, forderte ihn sein Freund ungeduldig auf.
„Da gibt es nicht viel zu berichten“, erwiderte Siegbert abwehrend.
„Die Jungkrieger haben mir von deinen heldenhaften Taten berichtet, wie du
gegen die Franken gekämpft und ihre Gutshöfe geplündert hast.“
„Sie werden übertrieben haben“, entgegnete Siegbert bescheiden.
„Nach der Flucht der Königin hast du sie in Thüringen vertreten“, hakte
Adalwin nach.
Er wollte seinen Freund zum Sprechen anregen.
„Sie gab mir den Auftrag dazu“, antwortete Siegbert verhalten.
Er hatte keine Lust, mit Adalwin jetzt darüber zu reden.
Ein Meldereiter trat in das Langhaus und sah sich kurz um. Er erkannte
Siegbert und überreichte ihm ein ledernes Futteral. Innen steckte ein
Pergament mit ein paar Zeilen von Prinz Amalafred. Er bat ihn sogleich nach
Carnuntum zu kommen, da der Fürst Audoin es wünscht. Siegbert musste gleich
aufbrechen und folgte dem Meldereiter.
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