Leseprobe:      Die Rebellen vom Rynnestig    (1. Kapitel)    
         
         
   

1. Rodungen

    Im Lenzmond (März 536)

 

Ein leichter Wind wirbelte die Schneeflocken vom Boden auf und trieb sie an den Rand des Weges. Dort bildeten sie hohe Wechten, die den Zugang in das Unterholz versperrten. Siegbert ritt vorsichtig auf dem Rynnestig, dem Kammweg des Thüringer Mittelgebirges, entlang. Sein Pferd hatte ein gutes Gespür, wo es hintreten durfte und er überließ ihm die Zügel. In der Ferne sah er eine Holzhütte. Es war nicht zu erkennen, ob sie bewohnt war. Langsam näherte er sich und bemerkte, dass Rauch am First durch das Schindeldach aufstieg. Niemand war zu sehen. Siegbert wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. Er glitt aus dem Sattel und band seinen Hengst an einen Baumstamm vor dem Haus. Ohne sich vorher bemerkbar zu machen, öffnete er die Tür und trat in den kleinen Raum. Ein alter Mann stand vor der Feuerstelle und legte ein paar Holzscheite in die Flammen.

„Kommst du endlich mal vorbei“, bemerkte der Alte mürrisch, ohne aufzusehen.

„Es ging nicht früher. Wie ich sehe, bist du noch nicht erfroren.“

„Spotte nicht, du Bengel! Obwohl ich kein freier Mann bin, solltest du mich respektvoll behandeln.“

„Es war nicht bös gemeint, mein lieber Jaros, das weißt du. Hast du einen heißen Tee für mich? Ich bin lange unterwegs gewesen und hier oben auf dem Rynnestig ist es noch grimmig kalt.“

„Woher kommst du?“, wollte der Pferdesklave Jaros wissen. Er schob einen kleinen Wasserkessel über das offene Feuer.

„Direkt von zu Hause, aus Rodewin!“, antwortete Siegbert und sah sich in der Hütte um.

„Ich habe dir Proviant mitgebracht und soll dich von deiner Frau fragen, ob du ohne sie auskommst.“

„Besser wäre es, wenn ich sie hier hätte und sie sich um das Feuer kümmert. Ich muss alles selbst machen. Mir fehlt die Zeit für die anderen Arbeiten.“

Jaros legte Brennholz nach und sah den Flammen zu, die sich in Richtung Decke streckten. Der Rauch zog durch die Schindeln ab.

„Wie kommt ihr mit den Rodungen voran? Habt ihr schon größere Weideflächen geschaffen?“, wollte Siegbert wissen.

Jaros sah Siegbert von der Seite an.

„Die Arbeit ist nicht leicht. Die Lichtungen werden von Tag zu Tag größer. Wenn sich die Sonne sehen lässt, kann bald überall frisches Gras sprießen. Wie sieht es bei euch im Tal aus? Liegt da noch Schnee?“

„Er ist zum Großteil weggetaut und die Bäche sind kräftig angeschwollen. Viele Wege stehen unter Wasser oder sind aufgeweicht.“

„Der warme Wind wird alles schnell trocknen“, beruhigte der alte Mann.

Jaros entnahm aus einem Leinensäckchen eine Prise zerstampfter Hagebutten und gab sie in zwei Tonschalen, die auf den Steinplatten neben dem Herdfeuer standen. Darüber goss er heißes Wasser aus dem Kessel. Ein angenehmer Duft breitete sich in dem kleinen Raum aus.

 „Es ist ein sonderbares Wetter. Der Himmel zeigt sich in allen Farben. Ich habe das noch nie erlebt. Was soll das nur bedeuten?“, fragte Jaros nachdenklich.

„Wenn du dich nicht auskennst, wer soll es sonst wissen?“

„Vielleicht eure germanischen Priester?“

„Mein Bruder Harald hat sie gefragt. Sie konnten ihm nichts Genaues sagen.“

Jaros trug die Teeschalen zum Tisch.

„Verbrenn dir nicht den Mund!“, bemerkte er.

Siegbert schlürfte langsam das wohlschmeckende Getränk. Er erinnerte sich, dass er als Kind diesen Tee am liebsten getrunken hatte. Damals war er in der Sommerzeit oft mit dem Pferdesklaven Jaros auf den Bergwiesen, beidseits des Rynnestigs. Sie hüteten die Pferde seines Vaters und Jaros erzählte ihm viele Geschichten aus seiner fernen Heimat. Sie lag am nördlichen Ende der Bernsteinstraße im Baltikum. Niemand kannte sich mit Pferden besser aus als er. Deshalb hatte Siegbert seinen Bruder Harald gefragt, ob er ihm den Pferdesklaven für eine gewisse Zeit ausborgen würde.

Hier oben, in den dichten Wäldern des Thüringer Mittelgebirges hatte er eine große Anzahl der weißen Pferde vor den Frankenkriegern versteckt. Sie wollten die Tiere aus den ehemaligen Thüringer Königsgütern ins südliche Frankenreich bringen. Siegbert konnte mit seinen Rebellen viele der Zuchttiere den neuen Machthabern entreißen. Die Pferde mussten mit Futter versorgt werden. In den dichten Wäldern gab es nicht genügend Gras. Deshalb rodeten die Jungkrieger in den Wintermonaten große Waldgebiete, um Weideflächen zu schaffen.

„Was willst du mit den vielen Pferden tun?“, wollte Jaros wissen.

„Ich kann es nicht sagen. Ich weiß es nicht. Für mich ist wichtig, dass die Franken sie nicht bekommen.“

„Du kannst sie nicht alle hier oben ernähren. Die gerodeten Flächen reichen nicht aus, um sie satt zu bekommen.“

„Das restliche Futter müssen wir uns aus den fränkischen Gütern holen“, meinte der Rebellenführer.

„Wenn die auch nichts mehr haben?“

„Dann bleibt uns nur noch, die Tiere den Göttern zu opfern.“

Jaros saß da und starrte mit ernster Miene in die Flammen. Er wusste, was das bedeutete. Ihm tat es im Innersten weh, wenn er bei einem germanischen Fest mit ansehen musste, wie ein Pferd getötet wurde.

Vor vielen Jahren hatte er eine Massenabschlachtung miterlebt als durch eine anhaltende Dürreperiode das Futter im Winter ausging. Jetzt bahnt sich die gleiche Katastrophe an. Für die nächsten Wochen hatten sie noch genügend Vorräte, doch was kommt danach? Wenn sich das Wetter nicht bessert, muss ein Großteil der Tiere sterben.

„Warum lebst du in unserer alten Blockhütte und nicht in den Hütten der anderen, auf den Rodungsplätzen?“, wollte Siegbert wissen.

„Dort ist es mir zu laut. Die jungen Leute sind lieber unter sich. Es reicht, wenn ich am Tag ein paarmal auftauche und ihnen sage, was zu tun ist.“

„Lass uns zu ihnen reiten. Ich bin gespannt, wieviel sie geschafft haben!“, sagte Siegbert und stand vom Tisch auf.

Jaros legte große Holzscheite ins Feuer und folgte dem Anführer der Rebellen nach draußen.

„Wo steht dein Pferd?“, wollte Siegbert wissen.

„Ich habe es im Schuppen.“

„Warum nicht im Gatter neben dem Haus?“

„Die Wölfe schleichen jede Nacht um die Hütte.“

„Haben sie schon Tiere aus unseren Herden gerissen?“, wollte Siegbert wissen.

„Bis jetzt noch nicht. Wir bewachen sie am Tag und in der Nacht.“

Jaros holte sein Pferd aus dem Anbau zur Blockhütte und sattelte es. Danach ritten sie auf dem Kammweg in östliche Richtung.

Nach kurzer Zeit hörten sie aus der Ferne Axtschläge. Der Rodungsplatz schien nicht mehr weit zu sein.

Sie gelangten zu einer Lichtung.

In der Nähe des Weges waren große Haufen von gefällten Holzstämmen aufgeschichtet. Über weite Flächen ragten in Kniehöhe noch die Baumstümpfe aus dem Boden.

„Die Wurzeln graben wir aus, wenn die Erde nicht mehr gefroren ist“, bemerkte Jaros.

„Das ist eine Menge Arbeit. Da werdet ihr bis zum Sommer zu tun haben.“

„Das reicht nicht aus. Ich glaube, dass deine Jungkrieger ein paar Jahre damit beschäftigt sind.“

„Willst du den ganzen Thüringer Wald schlägern?“, fragte Siegbert lachend.

„Wir werden nur kleine Flächen freilegen können. Du hast keine Ahnung, wie schwer die Arbeit ist. Es geht nur langsam voran. Wenn du willst, kannst du es selbst versuchen“, erwiderte Jaros verstimmt.

Siegbert überlegte eine Weile.

„Dein Vorschlag ist gut. Ich bleibe ein paar Tage bei euch. Wo ist das Lager der Männer?“

Jaros zeigte mit der Hand nach Osten.

„Hinter dem Hügel, bei der alten Lichtung oberhalb des Quellteichs, siehst du das Haus. Dort steht der Großteil der Pferde in einer Koppel.“

Siegbert ritt eilig voraus. Von der Höhe des Hügels sah er das mit Schindeln bedeckte Langhaus. Starker Rauch quoll aus einer Luke im Dachgiebel. Vor dem Haus waren Frauen mit der Essenzubereitung und dem Aufschichten von Brennholz beschäftigt. Als sie die beiden Reiter in der Ferne sahen, unterbrachen sie ihre Arbeit und griffen zu Stöcken und Gabeln.

„Wir sind keine Franken!“, rief ihnen Siegbert von weitem zu. Jetzt erkannten sie ihn und Jaros.

Sie freuten sich. Der Besuch war eine willkommene Abwechslung. Den ganzen Winter über lebten sie hier in der Wildnis der Berghöhen und wussten nicht, was im Tal passierte. Sie bestürmten Siegbert, dass er ihnen vom Leben im Rebellenlager und den Kindern in Rodewin berichtet.

„Jetzt habe ich keine Zeit dafür. Wenn ihr mich zum Abendessen einladet, erzähle ich euch alles, was ihr hören wollt.“

Die Frauen waren damit einverstanden und gingen freudig ihrer Arbeit nach.

Siegbert ritt mit Jaros weiter zu den Pferdeweiden. Die Tiere standen in der Nähe der Futterraufen eng aneinandergedrängt, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Ihr dickes Winterfell ließ sie besser genährt erscheinen als sie es waren. Neugierig sahen die Pferde zu den herankommenden Reitern. Sie machten keine Anstalten zu fliehen. Siegbert stieg ab und ging langsam auf die Gruppe zu.

In einem kleinen Lederbeutel am Gürtel bewahrte er Salz auf. Er benetzte seine Finger damit und hielt sie den Pferden entgegen. Die Tiere rochen es und leckten gierig daran. In seiner Satteltasche hatte er ein paar große Salzsteine. Die legte er abseits auf eine Steinplatte und ritt mit Jaros weiter zu den Holzfällern.

Die Axtschläge wurden lauter und der Schall brach sich an den gegenüberliegenden Berghängen. Es entstand der Eindruck als wäre ein ganzes Heer von Holzfällern hier am Werk. In kleinen Dreiergruppen arbeiteten sich die Jungkrieger langsam vor. Die Trupps waren weit voneinander entfernt, dass sie sich nicht durch die umstürzenden Baumstämme gefährden konnten. Erst spät erkannten sie die Besucher und mit einem besonderen Pfiff informierten sie die anderen.

Kein Axtschlag war mehr zu hören und der Wald schien wie ausgestorben. Aus allen Ecken strömten die Männer zusammen, um Siegbert zu begrüßen.

„Ich halte euch hoffentlich nicht von der Arbeit ab“, rief er ihnen freundlich zu.

„Wenn du uns hilfst, können wir das heutige Pensum schaffen“, erwiderte einer der Männer scherzend.

„Ich bin gekommen, um zu sehen, wie ihr vorankommt. Ihr habt die Fläche der alten Lichtung bereits mehr als verdoppelt. Das ist eine ausgezeichnete Leistung. Wenn ihr noch Hilfe benötigt, müsst ihr das sagen.“

„Die würden wir dringend brauchen!“, rief ein anderer.

„Was benötigt ihr?“

„Lass die Sonne scheinen!“

Alle lachten laut auf.

„Das würde ich gern für euch tun. Leider habe ich dazu keine Macht. Ich freue mich, dass ihr darüber noch scherzen könnt. Unten im Tal sind bereits viele Leute verzweifelt und glauben an den nahenden Weltenuntergang.“

„Davon haben wir gehört! Ist an dem Gerücht etwas dran?“

„Das kann ich euch nicht sagen. Nach dem Abendessen werde ich davon erzählen, was Odin vor langer Zeit gewahrsagt wurde.“

Ein begeistertes „Hurra“ schallte durch den Wald und alle gingen zurück zu ihrem Arbeitsplatz. 

Es war Nachmittag und schon dunkel, wie in der Nacht. Die Männer kehrten in ihre Unterkunft zurück. Sie lebten gemeinsam in dem Langhaus mit einem Satteldach aus Schindeln. Geeignetes Holz hatten sie als Baumaterial im Überfluss. In der Mitte des Firstes befand sich eine überdachte Öffnung, durch die der Rauch des Herdfeuers abziehen konnte. Die offene Feuerstelle leuchtete den ganzen Raum aus und spendete Wärme in der kalten Winterzeit. Tische und Bänke standen auf der einen Seite des großen Innenraums und auf der anderen war trockenes Laub für die Schlafplätze aufgeschüttet. Neben der Feuerstelle befand sich ein großer Holztrog mit frischem Wasser. Es kam aus einer hölzernen Rinne. Der findige Baumeister hatte einen Teil des Wassers der Quelle ins Haus abgeleitet und die hölzerne Wasserleitung tief in der Erde verlegt, damit sie nicht einfrieren konnte. Das war eine große Erleichterung für die Frauen, die vorher mit Holzkübeln das Wasser von dem Quellbach herantragen oder Schnee schmelzen mussten.

Mehrere Kessel standen auf eisernen Dreiböcken über dem Feuer und die Frauen rührten kräftig darin herum. Der Duft von Pilzen strömte durch den Raum.

Siegbert und Jaros mussten an der Stirnseite der mittleren Tischreihe Platz nehmen, damit sie von allen gesehen und gehört werden konnten.

Die Frauen, die nicht mit der Zubereitung und dem Auftragen der Suppe befasst waren, saßen neben den Männern. Sie waren verheiratet oder lebten mit einem der Jungkrieger zusammen. Andere konnten sich bei der großen Auswahl an schönen und kräftigen Burschen noch nicht für einen Bestimmten entscheiden. Sie ließen sich gern von ihnen umwerben.

Während des Essens schwiegen alle. Nur Schmatzen und Rülpsen war zu hören. Zufrieden sahen die Köchinnen den Männern zu, wie sie genüsslich die Suppe schlürften. Wer seine Holzschale geleert hatte, bekam Nachschlag, wenn er danach fragte. Manche ließen sich mehrmals ihre Schale füllen und hofften, dass sich der Kessel nicht zu schnell leerte. Wer schnell aß, war im Vorteil.

Eine der Frauen hinter den Kesseln schien das Heft in der Hand zu halten. Siegbert erkannte, wie sie die anderen in ihren Arbeiten anwies. Sie war eine resolute Frau, der man ansah, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Nach dem Essen wurde Siegbert aufgefordert zu berichten, was es im Tiefland Neues gab.

„Es hat sich nicht viel ereignet, nicht mehr als hier bei euch. Der Schnee ließ das Leben erstarren und die Dunkelheit betrübt die Gemüter. Wir haben die Sonne nicht mehr gesehen.“

„Wir auch nicht, obwohl wir weit oben, in den Bergen leben“, rief einer der Männer dazwischen.

„Es scheint überall so zu sein. Den Grund kennt niemand, auch nicht unsere Priester. Ich habe sie danach gefragt. Manche meinen, dass der Untergang der Welt bevorsteht.“

Siegbert schwieg eine Weile und es wurde still im Raum.

„Ich werde euch die Geschichte von der Weissagung berichten, wie sie mir mein Vater erzählt hatte. Wenn ich damit fertig bin, können wir darüber reden, was die Wettererscheinungen bedeuten.“

Viele nickten und manche bejahten lautstark den Vorschlag.

Siegbert begann zu erzählen, wie Odin von einer Wahrsagerin erfuhr, dass eines Tages die Welt der Götter untergehen würde und welche Vorkehrungen er traf, um sie zu schützen. Der nordische Hauptgott Odin hatte in der Götterburg der Asen eine prächtige Halle errichten lassen, in der die Einherjer lebten. Sie waren ehrenvoll gefallene Krieger, die von den Walküren nach Walhall gebracht wurden und dort ein gewaltiges Totenheer bildeten. Von ihnen erhoffte sich der Göttervater große Unterstützung im Kampf gegen die Riesen und ihren Verbündeten, wenn die Zeit gekommen war.

In bewegenden Worten beschrieb Siegbert den Kampf und das bittere Ende. Es gab noch Hoffnung auf eine neue, bessere Welt, in der die Menschen in Frieden aufwachsen und leben konnten. Balder, der Sohn Odins, sollte aus dem Totenreich der Göttin Hel zurückkehren und helfen, die neue Welt zu erschaffen.

 Als Siegbert die Göttergeschichte beendet hatte, entbrannte eine hitzige Diskussion. Es ging darum, ob die Zeichen am Himmel und die Verdunkelung der Sonne, den angekündigten Weltenuntergang bedeuteten. Hier gingen die Meinungen auseinander. Jeder glaubte, etwas sagen zu müssen und versuchte sich Gehör zu verschaffen. Es wurde im Raum laut. Keiner konnte den anderen mehr verstehen. Siegbert beobachtete das Geschehen und erkannte, dass die Diskussion durch die Angst um die Zukunft bestimmt war.

Die meisten waren noch jung und wünschten sich, heldenhaft im Kampf gegen die Feinde zu sterben, damit sie im Heer der Einherjer für Odin weiter kämpfen konnten. Es war nicht leicht, nach Walhall zu kommen. Im Wald, beim Schlägern der Bäume konnten sie keinen heldenhaften Tod erlangen. Sie brauchten den Kampf, Mann gegen Mann. Den würden sie nur gegen die Franken erzielen können. Begierig hofften sie, dass ihnen Siegbert diese Möglichkeit verschaffen würde. In die fränkischen Königsgüter wollten sie einfallen und deren Wachen töten oder durch diese selbst umkommen. Das Roden des Waldes schien ihnen nicht der geeignete Weg zu sein, um Odin zu gefallen. Siegbert musste sich hierzu etwas einfallen lassen. Er machte sich bemerkbar, um zu sprechen.

„Der heldenhafte Tod im Kampf gegen die Franken ist ein Weg, um den Göttern zu dienen. Ebenso gefällt ihnen aber auch eure Arbeit mit den Äxten. Ihr schafft damit neues Grünland, um die weißen Pferde, die Odin und Thor erfreuen, zu ernähren. Wir haben sie den Frankenkriegern entrissen, die diese edlen Tiere in ihrem Heer gegen unsere Freunde, die Ostgoten, einsetzen wollten. Das war damals ein heldenhafter Sieg, den ihr für Odin gefochten habt und für den er euch dankt.“

Die überzeugenden Worte von Siegbert zeigten Wirkung und alle sahen ihre Aufgabe beim Roden des Waldes aus einem neuen Blickwinkel. Stolz und Freude erfasste sie, den Göttern mit ihrer Arbeit zu dienen.

Das Geheul von Wölfen drang aus der Ferne zu ihnen. Keiner schien verwundert oder erschrocken zu sein.

„Habt ihr nach den Pferden gesehen?“, fragte Siegbert.

„Wir zünden jeden Abend vor dem Gatter Feuer an und bewachen die Tiere. Die Wölfe trauen sich nicht in unsere Nähe.“

„Bleibt wachsam! Ich habe einst erlebt, wie ein Wolfsrudel Pferde in einer Koppel angegriffen hat und viele von ihnen tötete. Ihr Blutdurst ist ungezügelt.“

„Die sollen nur kommen. Ich ziehe ihnen gleich das Fell über den Schädel“, rief einer der Burschen in die Runde und die anderen stimmten ihm zu.

Jaros forderte mit einer Handbewegung zur Ruhe auf.

„Seid still, damit wir sie hören können!“

Das Geheul schien nah zu sein. Es klang als wäre das Rudel bereits in Reichweite. In diesem Moment erschallte ein Signalhorn.

„Es ist einer der Wachmänner. Schnell eilt ihm zur Hilfe!“, schrien mehrere wie wild. Sie griffen nach ihren Waffen und rannten zu der Koppel.

Die Pferde waren unruhig und drängten sich auf einem Platz zusammen. Im Schein des Feuers konnte Siegbert Wölfe erkennen, die sich dem Zaun näherten. Das wilde Geschrei der Männer schien sie nicht zu stören. Wölfe waren scheue Tiere und wenn sich Menschen ihnen näherten, flohen sie. Dieses Rudel ließ sich jedoch nicht beirren.

Siegbert rannte mit den Jungkriegern zu den Pferden und hatte die weniger ausgeleuchtete Seite der Koppel im Auge. Dort sah er viele Augen aufblitzen. Mehrere Wölfe waren in die Einzäunung gelangt und fielen die verängstigten Tiere an. Mit den Hufen wehrten sich die Pferde und mancher Wolf blieb am Boden liegen oder zog sich zurück. Es kamen immer mehr. Siegbert warf seinen Speer in die Meute. Er traf. Ein Wolf heulte auf und sank zu Boden.

Mit dem Langmesser in der Hand rannte Siegbert auf die anderen zu. Ein besonders Großer sprang ihn von vorn an. Er riss sein Maul auf und schnappte nach seinem Hals. Siegbert stach zu. Der Stahl der Klinge drang der Bestie direkt ins Herz und sie fiel vor ihm in den Schnee. Zwei Wölfe griffen von der Seite an. Auf dem schneebedeckten Boden rutschte Siegbert aus und sein Messer fiel ihm aus der Hand. Einer der Wölfe fasste sein rechtes Bein. Er zerrte daran als wollte er es ihm ausreißen. Der zweite Wolf verbiss sich in seinen linken Unterarm. Siegbert wälzte sich blitzschnell auf ihn und brach ihm das Genick.

Er hatte jetzt beide Arme frei und schlug mit der Faust auf den Kopf des Wolfs, der von seinem Bein nicht abließ. Dem Tier schienen die harten Schläge nicht viel auszumachen. Wie bei einem Fangeisen umklammerten die Zähne des Raubtiers seinen Unterschenkel und Siegbert wusste nicht, wie er sich befreien konnte. Der Wolf zerrte unermüdlich an seinem Bein. Siegbert schrie ihn an. Es half nicht.

Ihm gelang es ein Holzscheit zu fassen, das neben einer abgebrannten Feuerstelle lag. Damit hieb er auf den Schädel des Wolfs, bis dieser losließ und winselnd in der Dunkelheit verschwand.

Der Kampf gegen das Rudel war noch nicht zu Ende. Siegbert wollte aufstehen. Es ging nicht. Durch den Sturz im Schnee hatte er sich den Knöchel verletzt. Dazu kamen die Bisswunden am Unterschenkel und Unterarm. Alles passierte in einem kurzen Moment. Jaros hatte ihn entdeckt und kam zu ihm geeilt. Er zog Siegbert aus der Koppel und half ihm auf die Beine.

„Pass auf, dass die Pferde nicht durch den Zaun brechen! Wenn sie fliehen, haben die Wölfe ein leichtes Spiel, sie zu reißen. Ich hole mir einen neuen Speer“, sagte Siegbert zu ihm. Humpelnd bewegte er sich allein zum Blockhaus und suchte nach einer Waffe. Er fand nur einen Köcher mit Pfeilen und einen Bogen. Die resolute Frau aus der Küche besah sich sein verletztes Bein und den linken Unterarm.

„Du kannst nicht zurück. Deine Verletzungen bluten zu stark. Ich werde die Wunden verbinden.“

„Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Stütze mich. Ich muss zu den Pferden.“

Die Frau wusste, dass es sinnlos war, ihn zurückzuhalten. Sie nahm eine Fackel und entzündete sie am offenen Herdfeuer. Dann half sie Siegbert, bis zu der Stelle zu kommen, wo ihn die Wölfe zuvor angegriffen hatten. Die Bestien waren noch da. Ihre leuchtenden Augen im Scheine der Fackeln wanderten vor der Koppel hin und her. An den Zaun gelehnt, zielte Siegbert und schoss. Der Pfeil schnellte in die Dunkelheit. 

„Du hast ihn getroffen!“, rief die Frau begeistert auf.

„Es sind noch mehr von ihnen da. Halte die Fackel hoch!“

Als er die Hälfte der Pfeile verschossen hatte, zog sich der Rest des Rudels an dieser Seite der Koppel zurück. Siegbert beruhigte mit Worten die ängstlich umherlaufenden Pferde, die in seiner Nähe waren. Ihm wurde schwindlig und er brach zusammen. Die Frau schrie laut um Hilfe und zwei Burschen kamen zu ihr geeilt. Sie trugen den Bewusstlosen ins Haus.

Der Rebellenführer hatte viel Blut verloren. Seine Wunden am Bein und Arm wurden versorgt. Er kam zu sich und wollte aufstehen. Es ging nicht. Er musste liegenbleiben und die Köchin reichte ihm einen heißen Tee mit Heilkräutern.

Das verstauchte Fußgelenk war stark angeschwollen. Durch die Verbände am Arm und Bein sickerte das Blut.

„Hast du mich verbunden?“, wollte Siegbert von der Frau wissen.

Sie nickte und wechselte den Lappen aus, mit dem sie das Fußgelenk kühlte.

„Wie ist dein Name?“

„Hildegard!“

„Bist du schon lange bei den Rebellen?“

„Vor einem Jahr bin ich ins Hauptlager gekommen.“

„Hast du eine Familie?“

„Sie sind alle tot.“

„Es tut mir leid! Was ist passiert?“

„Ich kann darüber nicht sprechen.“

Hildegard musste ihre Tränen unterdrücken.

Die anderen Männer kamen zurück und waren froh, den Angriff der Wölfe erfolgreich abgewehrt zu haben. Ein paar Jungkrieger hatten leichte Verletzungen. Ihre Wunden und Prellungen, durch Fußtritte der Pferde, wurden von den besorgten Frauen behandelt.

Die ganze Nacht gab es keinen Schlaf und aufgeregt berichteten die Männer von dem erfolgreichen Kampf gegen das Wolfsrudel.

Jaros blieb bis zum Morgen bei den Tieren in der Koppel und beruhigte sie. Mit ein paar Jungkriegern brachte er die getöteten Wölfe, die Großteils innerhalb der Koppel verstreut herumlagen, zu einer alten Eiche. Gekonnt zog Jaros den Bestien das Fell über die Ohren und hing die Häute über die starken Äste des Baums. Die Kadaver wurden auf einen Reisighaufen gelegt, um später verbrannt zu werden.

Als es hell wurde, sah Jaros nochmals nach den Pferden. Einige hatten Bisswunden, die nicht weiter gefährlich schienen.

„Wir bringen die verletzten Tiere zum Blockhaus. Dort können wir sie leichter behandeln“, sagte er und die Männer versuchten sie einzufangen. Nach der nächtlichen Aufregung war das nicht leicht zu bewerkstelligen.

Jaros sah nach Siegbert. Er war besorgt, wie stark sein Fußgelenk angeschwollen war und betastete es.

„Es sieht nicht aus als wäre es gebrochen. Bleib ein paar Tage liegen“, beruhigte er ihn.

„Mit einem straffen Verband werde ich gehen können“, erwiderte Siegbert barsch.

Hildegard schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass es nicht möglich war.

„Ich will mir den Schaden ansehen, den die Wölfe in der letzten Nacht angerichtet haben. Hilf mir auf!“, befahl Siegbert und streckte Jaros seine Hand entgegen.

Nach vergeblichen Versuchen aufzustehen, begnügte er sich damit, dass Jaros ihm berichtete.

Der Pferdesklave hatte bereits angewiesen, die schadhaften Stellen des Zauns zu reparieren. Wieviel Wölfe getötet wurden, konnte er nicht sagen. Er schickte einen Jungkrieger hinaus zu der Eiche, um die Kadaver zu zählen. Die Verletzungen bei den Pferden waren geringer als in der Nacht angenommen.

„Wie lange wird es dauern, bis ich auftreten kann?“, fragte Siegbert die Köchin.

„Eine Woche mindestens“, antwortete sie

„Da reite ich nach Hause und lass mich von meiner Frau kurieren.“

„Glaubst du, ich kann dir nicht helfen?“, entgegnete Hildegard beleidigt.

„Das wollte ich nicht sagen. Du machst alles gut, aber daheim ist eben daheim.“

„Ich verstehe dich! Ich wechsle noch einmal die Verbände und gebe dir von der Heilsalbe etwas mit. Die soll dir deine Frau dünn auftragen.“

Die Wunden bluteten nicht mehr stark. Deutlich waren die Spuren der Bisse zu erkennen. Hildegard bestrich die offenen Stellen vorsichtig mit der Salbe.

Mit großem Geschick wickelte sie Leinenstreifen um die verletzten Gliedmaßen und die Jungkrieger sahen ihr bewundernd zu.

Ein paar Männer halfen dem Rebellenführer in den Sattel und Jaros wollte ihn nach Rodewin begleiten. Es war eine gute Gelegenheit seine Frau und Tochter Rosa wiederzusehen.

Im Schritt ritten sie vorsichtig auf dem verschneiten Höhenweg entlang und bogen in das Tal ein, das zu den Quellen der Wip führte. Der Schnee war in den unteren Höhenlagen an vielen Stellen bereits geschmolzen.

Sie kamen am Eichelsee vorbei und besuchten kurz die Kräuterfrau in ihrer Blockhütte. Sie sah sich die Wunden und das geschwollene Bein an und erkannte, dass alles gut versorgt war.

„Wer hat das gemacht?“, wollte sie wissen.

„Eine Frau, die bei den Rebellen lebt.“

„Sie kennt sich aus, das sehe ich. Morgen werde ich zu dir nach Rodewin kommen und mir die Bisswunden erneut ansehen. Damit ist nicht zu spaßen. Wenn sie sich entzünden, kann es sein, dass du dein Bein und den Arm verlierst.“

„Das fehlte noch, da könnte ich mich gleich in meinen Speer stürzen.“

„Sieh dir deinen Bruder Harald an, wie tapfer er ist.“

„Wie er, könnte ich niemals leben. Mit nur einem Bein wäre mein Leben nichts mehr wert.“

„Sag das nicht! Du hast eine liebevolle Frau und ihr werdet viele Kinder haben. Für diese da zu sein, ist Erfüllung genug.“

„Ich bin Krieger! Da zählt nur der Kampf, ob auf dem Schlachtfeld oder später in Walhall“, entgegnete Siegbert überzeugt.

„Was die Nornen für dich vorgesehen haben, dem kannst du nicht entfliehen. Füge dich deinem Schicksal“, beschwor die Kräuterfrau.

Siegbert schwieg. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, jemals behindert zu sein.

„Wo sind deine Töchter?“, versuchte er das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Sie sind im Wald und sammeln trockenes Holz. Wenn du sie sehen willst, musst du bis zum Nachmittag warten.“

„So viel Zeit habe ich nicht. Wir reiten gleich weiter.“

„Sei vorsichtig mein Junge und belaste das Fußgelenk nicht“, sagte die alte Frau und half Jaros, den humpelnden Siegbert aufs Pferd zu setzen.

Bis nach Rodewin war es nicht mehr weit. Der Weg war frei von Schnee und sie ritten hinab zu dem Schwemmteich. Dort befanden sich die Pferdekoppeln von Harald, seinem Bruder, der im Oberwipgau als Gaugraf das Sagen hatte.

Jaros sah nach den Pferden und war zufrieden über ihren Zustand. Sie waren alle gut über den Winter gekommen.

„Reiten wir heim! Ich kann es nicht erwarten, meine Brunhilde wiederzusehen“, rief Siegbert begeistert aus.

„Du bist erst ein paar Tage von zu Hause weg“, entgegnete Jaros erstaunt.

„Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Es wird Zeit, dass die Waisenkinder zurück in die Rebellenlager kommen und Brunhilde bei mir, in der Wachstation am Roten Stein, sein kann.“

„Das wird wohl noch ein paar Tage dauern. Solange der Schwemmteich zugefroren ist, liegt auf dem Rynnestig Schnee. Das hat mir einst dein Vater gesagt.“

„Wir könnten auf dem Eis ein großes Feuer machen und es zum Schmelzen bringen. Es würde helfen, die Tage zu verkürzen“, meinte Siegbert scherzhaft.

„Was für Ideen du hast“, entgegnete Jaros kopfschüttelnd.

Er schwang sich in seinen Sattel und sie ritten zur Siedlung.