Leseprobe:      Das Blut der weißen Pferde    (1. Kapitel)    
         
         

1. Wahl des Gaugrafen  (Sep 529)

 

Silbern glänzte der Reif auf den Wiesen und die Morgenkälte drang durch die Kleidung. Hartwig, ein Sohn des im Krieg gegen die Franken gefallenen Gaugrafen von Rodewin, war mit seinem Sklaven Sigu schon kurz nach Mitternacht aufgebrochen, um ein Stück Wild zu erlegen. Als Morgenmensch liebte er es, den Tag sehr früh zu beginnen. Wenn er lange vor den anderen auf den Beinen war, hatte er das Gefühl, ihnen voraus zu sein. Auf der Burg des Königs Herminafrid war das Jagen eine seiner liebsten Beschäftigungen. Die beiden Prinzen Amalafred und Baldur, mit denen er fast den ganzen Tag zusammen verbrachte, waren Langschläfer und sie konnten dieser Neigung ihres Freundes nichts abgewinnen.

Eine Stunde von der Burg entfernt gab es eine Waldlichtung, die regelmäßig von Rehwild aufgesucht wurde und wo Hartwig schon öfter Jagdglück hatte. Hier versteckte er sich mit Sigu am Rande des Unterholzes und wartete geduldig. Mit den ersten Sonnenstrahlen waren die Rehe zu sehen. Vorsichtig traten sie aus dem geschützten Dickicht des Waldes, stets auf der Hut, bevor sie langsam weiter gingen und dabei ästen. Der Wind stand gut. Hartwig hatte seinen Standort so gewählt, dass die Tiere keine Witterung aufnehmen konnten. Eines der Rehe kam ganz nah heran. Er spannte den Bogen und der Pfeil zischte durch die Luft. Es war ein guter Schuss und das Tier fiel, direkt in die Brust getroffen, nach wenigen Schritten zu Boden. Die übrigen Rehe jagten in wilder Flucht zurück in den Wald.

Hartwig ging zu dem erlegten Reh und weidete es aus. Er packte es seinem Sklaven, auf die Schultern und sie liefen zurück zur Burg.

Dies war ein Morgen, wie er ihn mochte, schönes Wetter, Morgensonne und Jagdglück. Er konnte sich nichts Schöneres in diesem Moment vorstellen. Auf dem Heimweg dachte er daran, wie er vor vielen Jahren mit seinem Vater oder manchmal mit seinem großen Bruder Harald frühmorgens in der Umgebung von Rodewin jagen ging. Dies war jetzt nicht mehr möglich. Sein Vater starb im Krieg gegen die Franken und sein Bruder Harald verlor dabei ein Bein und würde wohl nie mehr zur Jagd gehen können. Das alles passierte erst vor wenigen Wochen. Eine Zeit, in der sich so viel im Thüringer Königreich ereignete.

 

Jetzt lebte Hartwig auf der Herminaburg, dem Königssitz der Thüringer. Er war der Gefährte von Baldur, dem Neffen des Königs. Der Prinz und seine Schwester Radegunde kamen nach dem Tod ihres Vaters Bertachar in die Obhut ihres Onkels Herminafrid, der nun alleiniger König des großen Thüringer Reiches war. Es erstreckte sich vom Norden des Harzes bis zur Donau und von der Elbe bis zur Werra. Nach dem Sieg gegen die Franken kam im Westen noch das Gebiet zwischen Werra und Fulda dazu. Hartwigs Braut Elke lebte bei ihrem Vater, dem Gaugraf Weibel vom Elbkniegau. Er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und sehnte sich nach ihr. Die Hochzeit war zwischen dem zukünftigen Schwiegervater und seinem Vater für das kommende Jahr vereinbart worden. Weibel wollte ihm Land in seinem Gau schenken. Dann könnte er jedoch nicht bei Baldur auf der Herminaburg sein. Das hatte er aber dem verstorbenen König Bertachar zugesagt. Es war alles sehr kompliziert und er sah keine Lösung.

 

Am Burghof war schon reges Leben. Alle gingen ihrem Tagwerk nach. Sigu lieferte das erlegte Reh in der Küche ab und bekam von der dicken Köchin einen süßen Brei zum Frühstück vorgesetzt. Das gefiel ihm. Er konnte sich hier am Königshof nicht beklagen. Hartwig brauchte seine Dienste nur selten und so machte er sich in der Küche nützlich. Hier gab es immer viel zu tun und er übernahm gern die schweren Arbeiten, wie das Heranschaffen des Wassers oder Spalten des Brennholzes.

 

Die Herrschaften schliefen noch und Hartwig sah vor dem gemeinsamen Frühstück nach den Pferden. In den Ställen waren die weißen Pferde in separaten Boxen untergebracht. Sein Hengst hatte auch eine eigene Box. Er wieherte, als er zu ihm kam. Sigu hatte ihn schon gestriegelt, bevor sie gemeinsam zur Jagd gingen. Das edle Tier war ein Geschenk seines Vaters für die bestandene Jungkriegerprüfung. Es leckte an seiner Hand und scharrte leicht mit den Vorderhufen. „Heute werde ich mit dir wieder ein wenig ausreiten, damit du mir hier im Stall nicht verrottest“, sprach er in ruhigem Ton und der Hengst schien ihn zu verstehen und nickte heftig mit dem Kopf. Es war jetzt Zeit zur Essentafel zu gehen und das gemeinsame Frühstück einzunehmen. Die Königin mit ihrer Tochter und Radegunde saßen schon am Tisch. Danach kam der König und fragte etwas mürrisch, warum Amalafred und Baldur noch nicht hier waren. „Die haben bestimmt wieder verschlafen“, meinte die Tochter und kicherte in die vorgehaltene Hand. „Was gibt es da zu lachen?“, schalt sie ihr Vater. Sofort verstummte sie und blickte nach unten. „Kennst du den Grund für ihre Verspätung?“, wollte ihr Vater noch von ihr wissen. Sie traute sich nichts zu sagen. In dem Moment kamen Amalafred und Baldur in den Raum. „Warum kommt ihr zu spät zum Frühstück?“, schnarrte Herminafrid sie an. „Entschuldige Vater“, antwortete Amalafred, sein Sohn. „Wir waren noch in der Kapelle zur Morgenandacht, und haben auch den alten Göttern unserer Ahnen ein kleines Opfer dargebracht.“

„Die könntet ihr noch nach dem Frühstück verrichten oder entsprechend früher aufstehen.“ Irgendwie war der König an diesem Morgen etwas missgelaunt. Vielleicht hatte er schlecht geschlafen oder Ärger mit dem Bau seiner neuen Burg. Allen war klar, dass es besser wäre, ihn an diesem Tag nicht zu reizen. Das Essen wurde aufgetragen und keiner sprach mehr ein Wort. Der König schaute in die Runde und zuletzt blickte er Hartwig an. „Ich habe gestern Nachricht von deinem Bruder erhalten, der dich zu ihm bittet. Es steht die Wahl zum Gaugrafen des Oberwipgaus an und da möchte er dich gern dabei haben. Du kannst also heute schon abreisen.“ Hartwig versuchte seine übermäßige Freude zu unterdrücken. „Ich danke dir mein König aber ich hätte noch eine Bitte.“

„Was möchtest du? Sprich!“

„Dürfte mich Baldur begleiten? Meine Sippe würde ihn gern einmal wiedersehen.“ „Die Bitte ist dir gewährt. Doch bleibt nicht länger weg, als es sein muss. Mein Sohn Amalafred kann auch mit euch ziehen und sehen, wie man auf dem Lande lebt.“ Herminafrid stand auf und ging eilig aus dem Raum. Alle schienen aufzuatmen. Der König war ein cholerischer Mann und wenn er schlechte Laune hatte, versuchte ihm jeder auszuweichen. Die drei jungen Männer freuten sich sehr, dass sie für ein paar Tage verreisen durften. Sie gingen in ihre Kemenate und packten ein paar Dinge für die Reise ein. Die Königin gab Hartwig ein kleines verschnürtes Bündel und bat es seiner Mutter zu geben.

Eilig ritten die drei aus dem Burgtor in Richtung Rodewin. Sie wählten den kürzesten Weg damit sie noch vor der Dunkelheit dort ankommen konnten. An einem Bach machten sie gegen Mittag Rast und verzehrten ihren Reiseproviant, den die dicke Köchin Hartwig mitgegeben hatte. Als Amalafred sein Pferd an das Bachufer zum Tränken führte, sprach Baldur ganz leise zu Hartwig. „Das war eine prima Idee, dass du den König gefragt hast und ich dich begleiten darf. Aber von mir und Ursula darfst du Amalafred nichts verraten. Möglicherweise verplappert er sich bei seiner Mutter und ich könnte großen Ärger bekommen.“ „Natürlich werde ich nichts sagen. Du kannst doch allein nach Alfenheim reiten und Amalafred bleibt solange bei mir in Rodewin.“ „Das ist das Beste, wenn wir es so machen. Ich werde ihm sagen, dass ich einen alten Freund dort besuchen will.“

„Das geht schon in Ordnung“, beruhigte ihn Hartwig. Amalafred kam zurück und war bereit, weiter zu reiten. Von den Dreien war er der Jüngste und im Sattel nicht so ausdauernd, wie Baldur und Hartwig. Oft fragte er, ob sie eine kurze Pause machen könnten, doch die anderen beiden drängten ihn durchzuhalten.

Am späten Nachmittag erreichten sie Rodewin, völlig entkräftet. Der Ritt war sehr anstrengend, auch für Hartwig und Baldur, die vor der Schlacht gegen die Franken als Meldereiter ähnliche Strecken im Tagesritt bewältigen mussten und daher solche Strapazen kannten.

Die Wiedersehensfreude war bei allen groß. Als Amalafred von seinem Hengst abstieg, konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Jaros und Siegbert halfen ihm ins Haus zu kommen, damit er sich dort an den Tisch setzen und ein wenig ausruhen konnte. Die anderen Beiden mussten erst einmal erzählen, wie es ihnen so am Hof des Königs Herminafrid erging. In den schönsten Farben schmückten sie das Leben dort aus, so dass die anderen, außer Harald, nicht aus dem Staunen heraus kamen. Er wußte, daß nicht alles, was golden glänzt, wirklich Gold war. Er hatte Herminafrid kennengelernt und vermutete, dass es bestimmt nicht leicht war, mit ihm unter einem Dach zu leben. Doch das behielt er für sich. Die Zuhörer würden sich über das echte Burgleben ohnehin keine rechten Vorstellungen machen können.

Waltraut, Hartwigs Mutter, hatte das Abendessen aufgetragen und alle langten, nach Haralds Dank an die Götter für das reichliche Mahl, eilig mit ihren Holzlöffeln in die großen Schüsseln mit Haferbrei. Amalafred traute sich nicht. Diese Tischgewohnheiten waren ihm fremd. Der Hausherr munterte ihn auf ungeniert zuzulangen. Zögernd tat er es. Der Brei schmeckte ihm besser, als er aussah. Waltraut hatte ihn mit etwas Honig gesüßt. Selten wurde der dem Essen beigegeben, denn man verwendete ihn als Medizin und hauptsächlich für die Herstellung des Mets. Nach dem Essen mussten Hartwig und seine Freunde von dem Leben am Königshof weitererzählen. Bei Met und einem bierähnlichen Getränk dauerte das noch lange an. Dann wurden die ersten von der Müdigkeit überwältigt und ihre Augen fielen noch am Tisch zu. Als Harald das bemerkte, beendete er die Fragestunde und alle suchten ihre Schlafstätten auf.

Hartwig und seine Freunde sollten in seinem Haus wohnen. So konnten sie dort noch ein wenig über die Dinge sprechen, die Harald mehr interessierten. Das Haus war sehr geräumig. Er lebte hier mit seiner Frau Heidrun, die wieder schwanger war, dem kleinen Sohn, Rosa der Sklavin, dem Knappen Roland und dem Schreiber, der ihn auf seinen Reisen durch das Thüringer Königreich begleitete. Harald hatte den großen Raum für die Stallung in mehrere Einzelräume unterteilen und wohnlich herrichten lassen. Hier lebten auch sein Knappe und der Schreiber. Die nicht genutzten Räume dienten als Unterkunft für Besucher und als Lager.

Harald interessierte es, ob Herminafrid nach der siegreichen Schlacht Nachrichten aus dem Frankenreich erhielt. Viel konnte Amalafred hierzu nicht sagen. Sein Vater besprach die meisten Staatsangelegenheiten nur mit dem Reichskanzler. Von einer Nachricht aus dem Frankenland hatte er noch nichts vernommen. Es war ihm unangenehm, daß er Haralds Fragen nicht ausreichend beantworten konnte. Nervös zupfte er an der Fibel seines Gewandes. „Im Übrigen scheinen meinem Vater solche Dinge nicht mehr zu interessieren“, meinte er. „Wieso das?“, fragte Harald erstaunt zurück. „Er ist nur noch mit dem Bau der neuen Königsburg befasst und die Staatsgeschäfte überlässt er allein seinen Beamten. Ich hatte einmal ein Gespräch zwischen dem Kanzler und seinem Sekretär belauscht und gehört, dass beide sehr besorgt sind, wie der Neubau finanziert werden soll. Durch eine Verwaltungsreform im gesamten Königreich hofft man nun mehr Steuern eintreiben zu können.“ „Das habe ich mir gedacht, dass es einmal so kommen wird. Die Eigenständigkeit der kleinen Gaue im Mittelreich waren Herminafrid schon immer ein Dorn im Auge. Zu gern hätte er dies abgeschafft und nun versucht er es über eine Verwaltungsreform. Gibt es denn schon Pläne, wie die aussehen soll.“ „Der Kanzler sprach davon, dass mehrere der kleinen Gaue in große zusammengefasst werden sollen und dort ein Königsbeamter die Interessen des Reiches wahrnimmt.“ „Das war vorauszusehen. Auf diese Art gelingt es dem König die Macht der Gaugrafen zu schwächen und die Zentralgewalt zu stärken.“ „Was bedeutet das für unseren Gau“, wollte Hartwig wissen. „So genau kann man das nicht sagen. Wahrscheinlich wird zum Reichsthing im Herbst auf der Tretenburg darüber gesprochen. Der Vorteil für den König läge wohl auf der Hand.“ Der Schreiber war da anderer Meinung. Es lag wohl daran, dass er in seiner Jugend im ehemals römischen Verwaltungsgebiet aufgewuchs. So erklärte er: „Es kann aber für die kleinen Gaue ein Vorteil sein, da viele Entscheidungen durch den Beamten des Königs in dem Zentrum der Großgaue getroffen werden können. Man spart sich dann die weiten Wege zum Königshof und so manches dürfte schneller entschieden werden.“ „Das mag schon sein“, warf Harald mürrisch ein. „Es wird wohl auf die Person ankommen, die an die Spitze der Großgaue gestellt wird.“ „So ist es. Da aber diese Person ein Reichsbeamter sein wird, so wird nur der König darüber befinden, wer diesen Posten einnimmt. Wenn der dann nicht die Interessen des Reichs mehr vertritt, so kann er ihn jederzeit wieder absetzen. Für das Reich ist das die beste Lösung.“ Harald, war noch nicht davon überzeugt. Er sah durch diese Entwicklung die Eigenständigkeit der kleinen Gaue gefährdet.

In zwei Tagen sollte im Oberwipgau ein neuer Gaugraf gewählt werden. So weit man zurückdenken konnte, kam dieser aus seiner Sippe und alle waren damit zufrieden.  Es war schon fast wie ein erbliches Recht. Nach dem Tod von Herwald, war anzunehmen, daß einer seiner Söhne mit dieser Aufgabe betraut werden würde. In der Regel kam der älteste Sohn dafür in Frage, wenn er geeignet erschien. Bei der letzten Wahl des Gaugrafen hatte man sich für Herwald entschieden, obwohl er jünger als sein Bruder Alwin war. Doch Herwald galt als der Intelligentere und Umsichtigere von ihnen.

Bei der kommenden Wahl wäre Harald der Geeignetste von den drei Brüdern. Er hatte die Erfahrung, dieses Amt gewissenhaft, wie sein Vater, auszuüben und die Sippenältesten vom Oberwipgau schätzten ihn sehr. Doch ein Problem gab es. Es hatte eine schwere Kriegsverletzung und war in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt. Niemand konnte sagen, ob er die Aufgaben des Gaugrafen in der Zukunft wahrnehmen konnte. Harald wusste es selber nicht. Der Stumpf seines abgeschlagenen linken Beins war inzwischen gut verheilt und er versuchte mit Krücken zu laufen. Das Reiten ging schon einigermaßen. Doch wie würden die Sippenältesten das einschätzen. Würden sie ihm dennoch zutrauen das Amt des Gaugrafen auszuüben? Die Entscheidung war unbestimmt. Aus diesem Grund bat er Hartwig zu kommen. Vielleicht wäre er bereit dieses Amt anzunehmen, wenn man sich gegen ihn entscheiden würde. Sein Bruder war sehr überrascht über dieses Ansinnen. Er hatte noch niemals an eine solche Möglichkeit gedacht und es war nicht das, was er sich für seine Zukunft einmal vorstellte.

 

Der Tag der Neuwahl des Gaugrafen war gekommen. Alle Sippenältesten und Krieger des Oberwipgaus waren am Thingplatz erschienen, um einen neuen Gaugrafen aus ihren Reihen zu wählen. Es kamen viele Zuschauer, die im Kreis um die Versammelten standen und von weitem das Geschehen betrachteten.

Harald war mit seinem Knappen, Hartwig und Amalafred sehr zeitig auf dem Versammlungsplatz angekommen. Der Knappe half ihm vom Pferd und gab ihm seine Krücken. Ohne Hilfe stakte Harald zu einem Stein der inmitten des Versammlungsplatzes lag und setzte sich darauf. Die eintreffenden Männer kamen zu ihm und begrüßten ihn freundlich. Sie erkundigten sich nach seinem Befinden und waren erfreut, dass er sich schon wieder selbständig bewegen konnte und die Wunde gut verheilte. Ulrich, der Sippenälteste aus Alfenheim, war der älteste Krieger am Thingplatz und leitete die Versammlung und die Wahl. Er würdigte zunächst die großen Verdienste des gefallenen Gaugrafen Herwald für die Gemeinschaft. „Er war mir immer ein guter Freund und wir hatten in vielen Schlachten Seite an Seite gekämpft. Nun ist sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen und er ist in Walhall und genießt den himmlischen Met und Schweinebraten.“ Es gab viele Hochrufe und Ulrich mahnte zur Ruhe. „Durch seinen Tod haben wir jedoch leider unseren Gaugrafen verloren und es wird nicht leicht sein, diese Lücke zu schließen. Zum Glück hat er uns aber drei Söhne hinterlassen, die ihm an Tapferkeit und Umsicht nicht nachstehen. Sein ältester Sohn Harald hat sich in zwei Schlachten gut bewährt und unseren Gau zu hohem Ansehen verholfen. Ihn schlage ich als neuen Gaugrafen vor.“

Es gab starken Beifall. Damit hatte Harald nicht gerechnet. Er schaute überrascht in die umstehende Männerschar und überlegte, was er jetzt dazu sagen sollte.

„Ich freue mich sehr, dass ihr mich zu diesem ehrenvollen Amt vorschlagt, wo ich doch eine erhebliche Kriegsverletzung habe und möglicherweise nicht mit dem Schwert voran in die nächste Schlacht reiten kann.“

„Das mag wohl sein“, meinte ein alter Krieger, „aber du hast das Zeug zu einem Gaugrafen und wir vertrauen dir.“ Wieder gab es starken Beifall. Nachdem es ruhiger wurde, fuhr Ulrich fort: „Mit dem Reisen zum Reichsthing kannst du einen deiner Brüder damit beauftragen, dass er dich dort vertritt. Wie wir hörten, lebt Hartwig bereits am Königshof und so kann er unsere Interessen jederzeit dort wahrnehmen.“ Alle schauten zu Hartwig. Der nickte zustimmend. Ulrich hob die Hand, und zeigte damit an, dass er weiter sprechen wollte. „Obwohl es so aussieht, dass sich alle schon für Harald entschieden haben, so will ich trotzdem noch fragen, ob es einen anderen Vorschlag für die Wahl des Gaugrafen gibt.“

Alle schwiegen.

Doch auf einmal meldete sich Raimund, der Sippenälteste aus Heyloh, zu Wort. „Es sieht so aus, als wäre ich der Einzige, der gewisse Bedenken hat. Aber ich muss sie euch sagen. Es ist richtig, dass Herwald uns immer ein sehr guter Gaugraf war und so lange wir denken können, hatte einer aus seiner Sippe dieses Amt inne. Das war einmal so, muss aber nicht immer so sein.“ „Was meinst du damit, rede nicht um den Brei herum und sag, was du denkst“, forderte ihn Ulrich barsch auf.

„Ich spreche schon, wenn ich nicht immer unterbrochen werde.“ Er schaute in die Menge, doch alle schwiegen und schauten ihn böse an. „Harald hat selbst gesagt, dass ihn seine Verwundung in der Bewegung einschränkt und obendrein ist er noch sehr jung und hat noch nicht so viele Lebenserfahrungen. Deshalb schlage ich mich als neuen Gaugrafen vor.“ Lautes Murren war zu hören. Dann sprach Ulrich:

„Jeder von Euch kann Vorschläge machen, das ist sein gutes altes Recht und so soll es für alle Zeiten bleiben. Gibt es noch jemand, der Gaugraf werden will, so soll er es jetzt sagen.“ Es gab keine weitere Meldung. „Wenn es keinen weiteren Vorschlag gibt, so sollen die Sippenältesten durch hochheben ihres Schwertes ihre Entscheidung bekunden. Wer für die Wahl des Heyloher Sippenältesten Raimund als Gaugraf ist, der hebe jetzt sein Schwert in die Höhe.“ Keine Klinge war zu sehen. In den Reihen der Versammelten gab es Gelächter und ein paar Spottworte. Ulrich forderte zur Ruhe auf. „Wer für Harald ist, der hebe jetzt sein Schwert.“ Alle streckten ihre Arme mit der Waffe in der Hand, in die Höhe. Raimund tat es auch, nachdem er von einem Krieger aus seiner Sippe einen Stoß in die Seite abbekam. Damit war alles entschieden.

Es wurde wieder laut unter den Versammelten und Ulrich hatte Mühe sie zum Schweigen zu bringen. „Mit dieser Wahl ist Harald unser neuer Gaugraf und wir, die Sippenältesten geloben ihm vor allen Kriegern unseres Gaues die Treue und den Gehorsam. Er wird uns immerfort ein gerechter Gaugraf sein.“

Als erstes gingen die Sippenältesten zu Harald und drückten ihm die Hand. Nach den ersten Gratulanten hielt er eine kurze Ansprache. „Sippenälteste, Krieger, Volk vom Oberwipgau und Gäste. Ich danke euch für das Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt und ich verspreche hier, euch nicht zu enttäuschen. Wir sind wohl ein sehr kleiner Gau im Thüringer Königreich, aber nicht so unbedeutend, wie so mancher denken mag. Hohen Besuch haben wir unter uns. Es ist Amalafred, der Sohn unseres Königs Herminafrid.“ Harald zeigte mit seiner Hand in dessen Richtung und alle schauten zu ihm und diskutierten ganz aufgeregt. „Wir wollen ihm die Ehre erweisen, die ihm zukommt und ihn bitten, zu mir zu kommen.“ Der Kreis der Versammelten öffnete sich und Amalafred schritt langsam zu Harald und stellte sich neben ihn. Als Dank für die Wahl und zu Amalafreds Ehren lade ich euch alle zu mir nach Rodewin auf einen Becher Met ein.“ Es gab laute Hochrufe und Harald stieg mit Hilfe seines Knappen, aufs Pferd. Die meisten der Anwesenden folgten ihm nach Rodewin. Hartwig war vorausgeritten und kündete die große Kriegerschar dort an. Heidrun ließ schnell Tische und Bänke im Hof aufstellen und Met aus dem Lager holen. Für den kleinen Hunger bereitete sie Schmalzbrote vor. Das Fett hatte sie selbst hergestellt. Sie machte es aus geräuchertem Speck. Den ließ sie in einem Tiegel aus und gab viel Zwiebeln und Gewürzkräuter hinzu. Wenn es erkaltet war, konnte es viele Tage aufgehoben werden, ohne dass es ranzig wurde.

Am Hof wurde es laut. Harald und sein Gefolge trafen in Rodewin ein. Sie stiegen von ihren Pferden und nahmen auf den Bänken, die auf dem Hof aufgestellt waren, Platz. Nachdem jeder saß und einen vollen Becher Met vor sich hatte, hielt Harald noch eine kurze Willkommensrede.

„Krieger des Oberwipgaus. Bevor ich weiter spreche, sollt ihr erst einmal eure Kehlen ölen mit dem Met aus meinen Kannen. Ich danke euch nochmals für das Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt. Dies ist mein erster Schluck als Gaugraf.“ Alle riefen begeistert dreimal seinen Namen und tranken ihren Becher in einem Zuge leer. Danach setzte Harald seine Rede fort. „Es wird euch interessieren, wie es im Oberwipgau weitergehen wird. Ich kann euch schon eines sagen, dass ich versuchen werde, alles so wie bei meinem Vater beizubehalten.“ Begeisternd schlugen einige mit ihren Handflächen auf die Tische. „Nach dem großen Sieg gegen die Franken, an denen ihr alle teilgenommen habt, scheint nun eine lang anhaltende Zeit des Friedens zu folgen. Die meisten werden sich darüber freuen. Doch ich selbst glaube nicht daran.“ Überrascht schauten sie ihn an.

„Wieso denkst du das nicht?“, rief einer der Krieger.

„Die Franken sind unsere stärksten Nachbarn und versuchen schon seit vielen Jahren das Thüringer Königreich zu erobern. Selbst wenn wir sie besiegen, so ist das noch kein Ende. Sie probieren es immer wieder und irgendwann würde es ihnen gelingen, wenn wir nicht in Übung bleiben. Daher denke ich, dass wir uns nicht auf die faule Haut legen dürfen und mit unseren Kampfübungen fortfahren müssen, so, wie wir das in den letzten zwei Jahren getan haben.“

„König Herminafrid hat aber noch nichts über einen bevorstehenden Krieg gegen die Franken gesagt“, meinte Ulrich. „Wir waren zu der Ehrung auf der Tretenburg und da hatte der König zu uns gesprochen und gemeint, dass nun unsere Waffen für lange Zeit ruhen können.“

Harald antwortete: „Unser König ist ein Mann des Friedens und so schlecht, wie die Franken sind, kann er gar nicht denken. Es ist nur meine Meinung, doch bin ich mir da ganz sicher. In den letzten beiden Jahren habe ich mich viel mit diesem Volk beschäftigt und ich denke, dass sie schon in wenigen Jahren unsere Westgrenze erneut überschreiten werden. Doch dann werden sie ein riesiges Heer mit sich führen, wie wir es noch nie gesehen haben.“

„Ich denke doch, dass der König mit den Franken einen Friedensvertrag abschließt und dann ist Ruhe für alle Zeit“, meinte Ulrich.

„Ihr werdet es sehen, es wird keinen Friedensvertrag geben und Ruhe werden wir keine haben.“

„Das sind keine guten Aussichten, die du uns da nennst“, sprach Ulrich. „Doch was können wir allein ausrichten, wenn die Franken kommen.“

„Es ist richtig, dass wir allein nicht viel tun können. Aber wir können unsere Wehrbereitschaft verstärken.“ „Wie soll das aussehen?“, wollte einer der Krieger wissen.

„Wie ich schon sagte, müssen wir unsere Kampfübungen fortsetzen. Da ich das selbst nicht übernehmen kann, so soll einer von euch, das übernehmen. Wer sich dafür geeignet hält, der soll seine Hand heben.“ Nach einer längeren Diskussion untereinander hoben vier Männer ihre Hand hoch.

„Das ist gut, dass ihr euch meldet. Wir können nun durch eine Wahl oder einen Wettstreit den Truppführer ermitteln.“ Wieder wurde laut diskutiert.

Harald deutete mit seiner Hand zur Ruhe. „Wer dafür ist, dass wir einen Wettstreit ausführen, der hebe jetzt die Hand.“ Die meisten Krieger streckten ihre Arme hoch. Das war eindeutig. „Wir werden also am nächsten Vollmondtag mit dem Wettstreit beginnen und den Besten ermitteln. Ihr sollt mit Pfeil, Speer und der Axt ins Ziel treffen und das zu Fuß und zu Pferd. Wer als Sieger dabei hervorgeht, soll Truppführer des Oberwipgaus sein.“ Die Begeisterung über den bevorstehenden Wettstreit war bei allen sehr groß und Harald hatte Mühe, wieder Ruhe zu schaffen.

„Ich bin aber noch nicht fertig. Eine weitere Möglichkeit uns gegen die Franken zu wappnen ist, unseren Schutz zu erhöhen.“ „Was meinst du damit?“, riefen gleich einige Ungeduldige.

„Das will ich euch sagen. Gehen wir einmal davon aus, dass die Franken in ein paar Jahren mit einem  riesigen Kriegsheer in unser Land einfallen und uns besiegen. Was würden sie dann tun?“ Alle schauten verdutzt Harald an. Nach einer Weile fuhr er fort: „Sie würden natürlich brandschatzen und rauben. Kreuz und quer würden sie bis zum einbrechenden Winter durch unser Land ziehen und dort, wo sie hinkommen, ist dann nichts mehr, wie es war. Die einzige Möglichkeit zum Überleben ist, in dieser Zeit unauffindbar zu sein. Würden wir im Gebirge, in einem der unzugänglichen Täler oder in den sumpfigen Flussauen leben, so wären wir von der Natur genügend geschützt, denn keiner würde sich dorthin wagen. Aber wir leben nun einmal hier und auswandern wollen wir nicht. So bleibt uns nur, unseren Gau wie eine natürliche Festung auszubauen.“ „Was meinst du damit?“, fragte Ulrich ungläubig und die anderen nickten ihm bestätigend zu.

„Wir leben hier wie in einem riesigen Becken. Im Westen liegen die Rinsberge und im Norden sind auch Berge. Im Osten und Süden haben wir Sumpfgebiete. Es sind nicht mehr als zehn Wege, die in unseren Gau führen. Wenn fremde Krieger durch unser Reich ziehen, so wählen sie die bekannten Handelsrouten, um schnell und sicher vorwärts zu kommen. Dort, wo kein Weg hinführt, ist normalerweise nichts zu holen. Also werden wir die Anzahl der Zugänge zu unserem Gau verringern und die Grenzen mit Dornenhecken unzugänglich machen. Somit findet kein Franke hierher und wir könnten dann möglicherweise überleben und unser Gut retten. Wir machen es wie die Igel, an die keiner leicht herankommen kann, ohne sich zu stechen.“

„Schaden kann es nicht, wenn wir unser Gebiet so absichern, ganz gleich, ob es einen Krieg gibt, oder nicht. Wir haben alle unsere Siedlungen mit Zäunen und Mauern gegen die Wölfe und Bären geschützt. Warum sollen wir nicht auch den ganzen Gau vor den Franken sicher machen können“, meinte Ulrich. Es meldeten sich noch viele zu Wort und es gab verschiedene Vorschläge, was man tun könnte. Harald gefiel, dass sich alle Gedanken darüber machten und mithelfen wollten. Er dachte daran, dass diese gemeinsame Unternehmung die Sippen im Gau noch weiter zusammenrücken ließe. Kleine Streitereien zwischen ihnen würden schnell ein Ende finden. Es gab nun einen gemeinsamen äußeren Feind, die Franken, und deshalb musste man zusammenhalten, wie Pech und Schwefel. Die Diskussion darüber hielt noch lange an. Einigen Kriegern wurde die Zunge schwer durch den reichlichen Met und das würzige Bier. So verabschiedeten sich die meisten am späten Nachmittag, um rechtzeitig vor dem Dunkelwerden noch zu Hause anzukommen.

Harald war mit diesem Tag sehr zufrieden. Er hatte alles erreicht, was er sich wünschte. Dass man ihn zum Gaugrafen wählt, das hatte er gehofft. Er war sich dessen aber nicht sicher. Nun konnte er sich der Absicherung des Gaus widmen. Die Idee dafür hatte er schon lange. Sie kam ihm vor vielen Monden auf seinen Reisen durch das Thüringer Königreich. Hier konnte er sehen, daß die Zufahrten zu manchen Gauen im Gebirge und in den sumpfigen Auen sehr beschwerlich waren. Wenn es schon für ihn nicht leicht war, bei bestem Wetter und mit ortskundigen Führern dorthin zu gelangen, wie schwer musste es für einen Krieger aus einem fremden Reich sein. Diese so geschützten Gaue waren wie eine natürliche Festung und für einen Feind ein zu hohes Risiko, dort einzudringen.

 

Am Abend kam Baldur aus Alfenheim zurück. Er fragte Hartwig, ob sein Wegbleiben auch                niemanden aufgefallen war. Der konnte ihn beruhigen.

Für den nächsten Tag hatten sie sich vorgenommen, zur Entenjagd an den Eichelsee zu gehen. Er fragte Baldur und Amalafred, ob es dabei bliebe und sie mitkommen würden. Beide sagten zu. Die Nacht war daher sehr kurz. Nach Mitternacht brachen sie auf und es war um diese Zeit noch dunkel. Hartwig hatte Haralds Hund mitgenommen, der im Aufspüren von Enten abgerichtet war.

Nach einer Stunde waren sie am See angelangt und gingen auf einem Wildpfad zu einer freien Wasserstelle im Schilfgürtel. Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich am Horizont. Der Hund stand wie versteinert am Ufer und beobachtete aufmerksam die Wasseroberfläche. Die drei Jäger legten Pfeile auf die Bögen und warteten ganz ruhig. Da, auf einmal wurde der Hund ganz aufgeregt. Sie ließen ihn laufen. Sogleich sprang er ins Schilfdickicht und war verschwunden. Hartwig deutete mit seinen Fingern in die Richtung, wo er die Enten erwarten würde. Es war immer noch still. Auf einmal schwammen aus dem Schilf ein paar Entenpärchen, genau auf die Wasserstelle vor ihnen zu. Alle drei schossen geschwind ihre Pfeile ab. Die Enten versuchten eilig zu entfliehen und flatterten in geringer Höhe über dem Wasser davon. Zwei Enten waren getroffen. Amalafred stieg gleich in das nur kniehohe Wasser, um seine Jagdbeute zu holen. Hartwig ließ sich seine Ente von Haralds Hund bringen. „Willst du es noch einmal versuchen?“, fragte er Baldur. „Nein, ich glaube das hat keinen Zweck mehr. Die meisten sind im Schilfgürtel aufgestiegen und am jenseitigen Ufer gelandet. Wir müssten um den großen See herum laufen, um in Schussweite zu kommen, doch das wäre zu weit.“ „Na gut, wie du willst. So können wir gleich wieder nach Hause gehen, wenn Amalafred seine Ente gefunden hat. Wo ist er denn nur geblieben?“ Amalafred war im Schilf verschwunden und suchte angestrengt nach dem getroffenen Vogel. Der Pfeil war jedoch nur in den Flügel eingedrungen und so suchte die Ente im Schilf Schutz. Hartwig schickte den Hund nach, um die Ente zu finden. Der stöberte sie bald auf und Amalafred konnte sie mit den Händen greifen. Mit seiner noch lebenden Jagdbeute stieg er aus dem Wasser. „Du musst sie noch töten“, sagte Hartwig. „Das kann ich aber nicht“, entgegnete der Prinz. „Wieso nicht, du hast sie doch mit dem Pfeil erlegt?“ „Es ist etwas anderes, ein Tier aus der Ferne mit dem Pfeil oder Speer zu töten.“ „Das verstehe ich nicht?“ meinte Hartwig etwas mürrisch. Er griff nach der Ente und tötete sie fachmännisch mit seinem Messer.

Hartwig schaute auf den Boden und sah viel Blut. „Was ist das?“ fragte er überrascht, „das kann doch nicht von der Ente sein.“ Jetzt sahen alle auf den Boden. „Amalafred, du bist es, der so stark am Bein blutet. Du hast dich bestimmt im Schilf geschnitten. Lass mich einmal sehen.“ Amalafred hob seinen Fuß und das Blut tropfte langsam zu Boden. „Das ist eine große Schnittwunde an deiner Fußsohle. Damit kannst du unmöglich nach Hause gehen. Baldur und ich werden dich erst einmal aus dem Schilf tragen.“ Sie legten ihre Hände kreuzweise zusammen und bildeten einen Tragesitz. Vorsichtig setzte sich Amalafred darauf. So trugen sie ihn aus der Schilfzone heraus. Auf der Wiese angekommen legten sie ihn auf den Boden und besahen sich die Wunde genauer. Sie war noch voller Schlamm und dazwischen sickerte das Blut durch. „Wir müssen aufpassen, dass er keine Blutvergiftung bekommt. Sonst müssen wir ihm noch das Bein abtrennen“, meinte Baldur scherzhaft. „Du hast Recht. Ich weiß schon was wir tun können“, sagte Hartwig und suchte im Gras ein paar Blätter Spitzwegerich. Die zerknitterte er in der Hand, nahm sie in den Mund als wollte er sie kauen und legte sie dann auf die Wunde. Von seinem Hemd riss er den Saum ab und verband damit Amalafreds Fuß. Die beiden Prinzen schauten ihrem Freund bewundernd zu, wie gekonnt er das machte.

„Wir werden unseren Verwundeten jetzt zu der Hütte des Kräuterweibs tragen, die hier am See wohnt und sich mit allerlei Krankheiten gut auskennt. Sie hat bestimmt eine Heilsalbe.“

Hartwig packte Amalafred wie einen Getreidesack auf den Rücken und Baldur nahm alle Köcher und Bögen. So gingen sie zu der Hütte der Kräuterfrau. Vor ihrer Tür war eine Bank, auf der er ihn absetzte. „Hallo, ist da wer?“, rief er und klopfte an die Holztür.

Alles blieb ruhig. Nochmals schlug er mit den Fäusten dagegen. Doch es blieb immer noch ruhig. „Vielleicht ist sie nicht da“, meinte Baldur. „Das glaube ich nicht, aber sonderbar ist es schon“, sagte Hartwig und lief um das Haus herum. Als er wieder an der Haustür anlangte, klopfte er abermals und legte sein Ohr an die grob behauenen Bretter. „Ich glaube jetzt hat sich etwas da drinnen gerührt“ „Ich kann nichts hören, du bildest es dir bestimmt nur ein“, meinte Baldur, „es ist besser, wenn wir gehen und Amalafred nach Hause tragen.“ „Das ist aber eine ganz schöne Strecke und sehr leicht ist er nicht gerade.“ „Du wirst das schon schaffen, so gut wie du gebaut bist“, meinte sein Freund und mußte dabei lächeln. „Allein packe ich das nicht, wir müssten uns dann schon abwechseln.“ „Dann ist es besser, wir lassen ihn hier zurück und holen unsere Pferde.“ „Ihr könnt mich doch nicht allein lassen“, rief der Prinz ängstlich. „Sei ohne Sorge, wir lassen dich nicht hier. Entweder nehmen wir dich mit, oder ich gehe allein nach Rodewin und hole unsere Pferde.“

Aus dem Hausinneren war jetzt ein Knarren zu hören, so als wenn eine Holzbank verschoben wurde. Langsam öffnete sich die Tür um einen schmalen Spalt und eine junge Frau schaute verschlafen auf die drei Frühaufsteher. „Was wollt ihr so zeitig am Morgen bei uns?“, fragte sie verwundert. „Unser Freund hat sich bei der Entenjagd am Fuß verletzt und kann nicht mehr gehen. Wir wollten deine Mutter fragen, ob sie ihm helfen kann“ antwortete Hartwig.

„Sie ist nicht da und sucht um diese Zeit Kräuter und Pilze im Wald. Ich weiß nicht, wann sie zurück sein wird.“ „Können wir hier auf sie warten?“, fragte er die junge Frau. „Das könnt ihr“, sprach sie und verriegelte von innen wieder die Tür.

„Jetzt heißt es möglicherweise lange warten. Vielleicht sollten wir Amalafred nun doch allein hier, in der Obhut der hübschen Meid lassen und unsere Pferde holen? Was meinst du dazu, Amalafred.“

„Gut, aber bleibt nicht so lange weg und bringt etwas zu Essen mit. Ich bin schon fast am verhungern“.

Hartwig und Baldur liefen eilig auf dem Feldweg in Richtung Rodewin.

Amalafred saß auf der Bank vor dem Haus und hatte seinen verletzten Fuß hoch gelegt. Die aufgehende Sonne schien ihm ins Gesicht und wärmte ihn auf. Die Tür der Hütte öffnete sich abermals und die junge Frau kam heraus und hatte eine Holzschale in der Hand. „Hier nimm diesen heißen Tee, damit du nicht frierst“, meinte sie und reichte ihm die Schale. Amalafred nippte ganz vorsichtig daran. Der Tee schmeckte angenehm nach Waldbeeren. Die Frau schaute ihn an und sagte: „Ich heiße Ferun und wie heißt du?“ „Amalafred.“, sagte er kurz. „Was ist dir denn passiert?“ „Ich habe mich im Schilf verletzt und es hat ein wenig geblutet.“ „Zeig es mir, vielleicht kann ich dir helfen.“ Er hob seinen Fuß und wollte den Lappen entfernen. „Laß nur, ich mache das selber“, sagte sie und setzte sich auf die andere Bankseite. Sie wickelte den verknoteten und blutdurchtränkten Stoffstreifen auf und besah sich die Fußsohle. „Das sieht nicht sehr gut aus“, meinte sie. „Die Wunde ist groß und muß erst einmal gründlich gereinigt werden.“ Sie blickte zur Haustür und rief: „Helga, bringe mir heißes Wasser.“ Zu Amalafred gewandt sagte sie leise: „Helga ist meine jüngere Schwester.“ „So, so“, bemerkte Amalafred kurz. „Du redest wohl nicht so gern, weil du so kurz angebunden bist, oder hast du starke Schmerzen.“ „Es sind die Schmerzen“, sagte er und lächelte dabei. Das Lächeln schien sie versöhnt zu haben, denn sie fuhr mit dem Erzählen fort. „Ich lebe hier mit meiner Schwester Helga und der Mutter, die man die Kräuterfee nennt. Du warst bestimmt noch nie hier, denn an dich hätte ich mich bestimmt erinnert?“

„Das stimmt, aber es ist sehr schön an diesem See. Wo ist denn dein Vater?“ „Der ist schon lange tot. Er starb an einer Erkältung. Wir lebten schon immer hier im Wald, denn er war Köhler. Als er gestorben war, wollte meine Mutter nicht mehr zu ihrer Sippe zurück und blieb hier. Sie kennt sich sehr gut mit Kräutern aus und hilft denen, die eine Medizin benötigen.“ „Sammelst du selber welche?“, wollte Amalafred wissen. „Ich kenne die meisten Heilpflanzen, aber mit meiner Mutter kann ich mich noch lange nicht messen. Sie sucht ständig nach neuen Rezepturen und probiert alles vorher an sich selbst aus.“ Inzwischen kam Helga mit einem Holzeimer. „Hier ist das heiße Wasser“, sagte sie und schaute Amalafred ins Gesicht und dann erst auf seinen verletzten Fuß. Als sich ihre Blicke begegneten hatte er ein gar sonderbares Gefühl. Ihm schien das Blut in den Kopf zu steigen. Beide Frauen kümmerten sich nun um seine Wunde. Sie reinigten sie zuerst und Ferun schaute nach, ob sich noch ein paar Schmutzreste drinnen befanden. Es war eine reine Fleischwunde, ein glatter Schnitt. Wahrscheinlich durch eine der vielen Teichmuscheln. Da er seine Schuhe ausgezogen hatte, bevor er ins Wasser stieg, war das leicht möglich.

„Wenn meine Mutter hier wäre, dann wüsste sie vielleicht einen Spruch für die schnelle Heilung und du könntest bald wieder auftreten“, meinte Helga. „Kann sie denn zaubern?“ „Nicht so gut wie Odin oder Freya, aber ein bisschen schon.“ „Ich hatte einmal davon gehört, dass man Pferde damit heilen kann.“ „Ja, Odin hatte einmal dem Fohlen von seinem Sohn Balder mit einem Zauberspruch geholfen. Er sagte: ‚Knochen zu Knochen, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, so seien sie fest gefügt‘. Danach war das Tier wieder gesund. Aber wenn ich das sage, so wird es dir nicht helfen.“ „Du kannst es einmal versuchen, vielleicht gelingt es doch.“ Helga hielt ihre Hände über seinen verletzten Fuß und sprach dreimal den Zauberspruch. „Hat sich die Wunde geschlossen?“, wollte Amalafred ungeduldig wissen. Ferun besah sich die Schnittstelle und meinte: „Wie es aussieht, muss meine Schwester noch ein wenig mit dem Zaubern üben. Es hat sich gar nichts verändert.“ Helga betrachtete ihre Hände und schien verärgert, dass es nicht funktionierte.

Ferun drückte etwas an der Wunde, die danach stärker blutete. „Warum machst du das?“, fragte Amalafred verwundert. „Das frische Blut spült den letzten Schmutz heraus und es kann sich dann besser neuer Grind bilden, der alles sauber verschließt“, sagte sie.

Amalafred betrachtete beide Frauen. Sie knieten vor ihm und versorgten bedächtig seinen Fuß. Sie waren älter als er und gutproportioniert. Wenn sie sich nach vorn beugten, konnte er weit in den Ausschnitt sehen. Sie hatten nur ein einfaches Sackkleid aus derbem Stoff an. Ihre großen Brüste wippten bei jeder Bewegung und am liebsten hätte er nach ihnen gefasst. Helga merkte wohl, wohin seine Augen starrten, doch ließ sie sich nichts anmerken. Ungeniert und unbefangen bot sie ihm weitere Einblicke. Als Ferun mit dem Verband fertig war, strich sie Amalafred über den Unterschenkel. „Du hast sehr schöne Beine und die Haut ist so zart, wie bei einer Frau. Ein Bauerssohn scheinst du nicht zu sein, denn die haben in deinem Alter schon oft Schwielen und Hornhaut. Woher kommst du denn?“ „Ich komme von weit her, aus dem Oberreich und bin nur ein paar Tage zu Besuch in Rodewin.“ „In Rodewin?“, fragte Helga, „dort haben sie die herrlichen weißen Pferde. Manchmal kommen sie bei uns vorbei, wenn sie zu den Bergweiden ziehen. Das sieht immer sehr schön aus.“ „Ja, das sind sehr prächtige Tiere.“ „Hast du mit Pferden zu tun?“ „Ich bin Pferdeknecht beim König.“ „Da bist du richtig zu beneiden, dass du sie immer in deiner Nähe haben kannst“, meinte Helga. Amalafred nickte. Wer er wirklich war, verschwieg er lieber. Als Pferdeknecht war er den beiden bestimmt lieber.

 

Auf dem Weg sahen sie zwei Reiter und drei Pferde auf die Hütte zu kommen. Es waren Hartwig und Baldur. Sie sprangen von ihren Rössern und gingen zu der Holzbank. „Wirst du reiten können Amalafred?“, fragte ihn Hartwig. „Ja, es wird bestimmt gehen. Ich habe einen neuen Verband.“ Ferun bot den Ankömmlingen Tee an. Sie tranken einen kleinen Schluck und bedankten sich. Baldur hatte es eilig. Er wollte noch gern nach Alfenheim zu seiner Geliebten reiten. Vorsichtig halfen sie Amalafred auf das Pferd. „Euer Freund kann morgen zu uns kommen, damit wir nach seiner Wunde sehen“, bot Ferun an. „Das kann er gern tun“, meinte Hartwig und bedankte sich bei den beiden Frauen für die Hilfe. Er fragte sie, ob er ihnen eine der erlegten Enten als Dankeschön überlassen darf, doch sie winkten ab. Sie aßen kein Fleisch. Verwundert schauten die Männer die Frauen an und ritten davon.