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Leseprobe: Die chinesische Lady (1. Kapitel) | ||||||||||||
Von meiner Freundin Jin aus Shanghai ist heute ein lang ersehnter Brief
angekommen. Aufgeregt öffne ich ihn. Sie schreibt mir: „Liebe Meiling, ich
kann nicht zu Dir nach London kommen, da ich mich vor der weiten Flugreise
fürchte.“
Ich glaube nicht, dass es der einzige Grund ist. Sie wird mir noch nicht
verziehen haben, dass ich ihr vor einem halben Jahr verschwiegen habe, einen
Londoner Bankier zu heiraten. Sie war wie eine Schwester für mich. Wir
besuchten zusammen die Schule und begannen nach unserem Studium an der
Universität in Hangzhou mit der Arbeit in einem Kraftwerk, das sich nahe der
Provinzhauptstadt Hangzhou befindet. Zwischen uns gab es nie ein Geheimnis,
bis zu meiner Reise nach London. Sie weiß, dass ich mit einem Wiener
Techniker auf der Baustelle verlobt war und wir uns liebten. Ich musste mich
jedoch dem Willen meiner Eltern unterordnen und einen anderen Mann heiraten.
Nichts hatte ich ihr gesagt. Ich habe ihr Vertrauen missbraucht.
Was soll ich jetzt tun? Ich könnte sie in Shanghai abholen, doch sie muss
selbst den Willen aufbringen, zu mir zu kommen. Ich weiß, dass sie ein
Hasenfuß ist und sich am liebsten in ihrem vertrauten Umfeld aufhält. Hier
in London wäre sie bei mir und ich würde sie beschützen und ihr helfen, wie
ich es früher getan habe. Wie kann ich ihr das nur verständlich machen?
Mir kommt die Idee, einen Brief an meine Mutter in Shanghai zu schreiben
und werde sie bitten, mit Jin darüber zu sprechen.
Gleich setze ich mich hin und verfasse ein paar Zeilen.
Die Eltern und beide Schwestern haben sich nach der Hochzeit nicht bei
mir gemeldet. Ich nehme an, dass es an dem schlechten Gewissen liegt, dass
sie haben. Meinen Vater wird es hart treffen, wenn er in seine neue
Bank-Filiale in Shanghai geht. Er wird sich jeden Tag daran erinnern, dass
er für die Geschäftsführerposition mein Glück geopfert hat. Ich wünsche,
dass alle unter diesem Druck leiden, die einen Vorteil aus meiner Heirat
gezogen haben.
Zum Diner erzähle ich meinem Ehemann Gehao von Jins Brief und was sie mir
geantwortet hat. Er reagiert nicht darauf. Es kränkt mich, dass er kein
Interesse zeigt. Was sollte er sagen? Es ist Jins Entscheidung und die hat
jeder zu respektieren.
Ob sie die Kamera absichtlich eingeschaltet ließ, damit ich sie
beobachten kann? Es ist möglicherweise eine leichte Form von
Exhibitionismus.
Sie sagte mir, dass es sie nicht stört, wenn Zuseher in der Leitung sind.
Der Gedanke ist für mich unerträglich.
Im Fernsehen hatte ich einen Bericht gesehen, wo exhibitionistische
Frauen in ihrer Wohnung ständig eine Webcam laufen ließen. Manche Männer
saßen stundenlang vor dem Bildschirm und betrachteten voyeuristisch die
leichtbekleideten Damen. Es mag sein, dass diese Frauen an den Klicks ihrer
Spanner verdient haben. Die Anzahl der Zuschaltungen pro Tag war in dem
Bericht nicht genannt.
Ich denke, dass Silvia nicht zu diesen Frauen gehört. Vorsichtshalber
werde ich ihr nichts über solche zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten
verraten. Seit mehreren Wochen sind wir mehr als enge Freundinnen, wir
lieben uns. Sie hat es mir versichert und meine Gefühle zu ihr sind stark.
Ich fühle mich zu ihr hingezogen, wie früher zu Peter. Seit ich verheiratet
bin ist es meine erste körperliche Beziehung zu einem Menschen. Sie macht
mir das Leben lebenswerter und lässt mich die Trennung von meinem ehemaligen
Verlobten Peter und die Zwangsheirat mit dem Sohn eines Bankiers aus
Hongkong vergessen. Bisher habe ich mich nur auf meine Schwangerschaft
konzentriert. Die Geburt meines Sohnes soll in drei Monaten sein. Sylvia
sagte mir, dass sie sich auf diesen Moment freut. Es wird unser Kind sein,
auch wenn Peter der leibliche Vater ist. Davon weiß sie nichts. Sie glaubt,
dass mein Mann Gehao der Erzeuger ist und ich eine bisexuelle Beziehung mit
ihm und ihr habe. Dem ist nicht so. Mit Gehao hatte ich vor unserer
Eheschließung einen geheimen Ehevertrag ausgehandelt. Wir teilen nicht das
Bett und er erkennt, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, mein Kind als
das seine an. Bisher hat er sich an unsere Abmachung gehalten.
Nüchtern betrachtet habe ich keinen Grund zu klagen. Gehao ist ein
zuverlässiger Partner, der mich achtet und Rücksicht auf mich nimmt. Beide
sind wir Kinder der familiären Zwänge und müssen das Beste aus unserem Leben
machen.
Heute startet die Silvesterparty. Isabella, das Dienstmädchen, frischt
mein langes Abendkleid auf. Sie hält es vor den Spiegel und stellt sich vor,
auf der Veranstaltung zu erscheinen und den Männern damit den Kopf zu
verdrehen.
Ich beginne mich anzuziehen. Sie hilft mir dabei. Pünktlich zur
verabredeten Zeit bin ich im Vorraum. Gehao und unser Chauffeur Harry warten
auf mich. Ihren bewundernden Blicken sehe ich an, dass ihnen mein Kleid
gefällt. Sagen tun sie nichts, obwohl mir ein Kompliment aus ihrem Mund
gefallen würde.
Gehao steigt aus und geht ihr entgegen. Sie tauschen ein paar Worte und
kommen zum Auto. Harry öffnet meiner Freundin dienstbeflissen die Tür und
hilft beim Einsteigen. Ich sitze mit ihr auf der Rückbank und wir drücken
uns kurz zur Begrüßung.
Auf dem Weg bis zum Hotelgebäude, wo die Party stattfinden soll, sprechen
wir kein Wort. Ich habe Silvia angemerkt, dass sie nervös und unsicher ist.
Es ist nicht die passende Zeit, um mit ihr über belanglose Dinge zu
plaudern.
In der Tiefgarage des Hotels sind genügend Parkplätze frei. Wir fahren
mit dem Aufzug in das oberste Stockwerk und gelangen in einen Vorraum, mit
angrenzender Garderobe. Durch die breiten Glastüren kann ich in das
Restaurant sehen. Harry gibt unsere Mäntel ab. Silvia und ich gehen zur
Fensterfront und sehen über die Dächer von London.
„Das ist eine wunderschöne Aussicht“, sagt sie begeistert und zeigt in
die Richtung wo sie wohnt. Vereinzelt sieht man Leuchtraketen aufsteigen und
in den Straßen Knallkörper aufblitzen.
Gehao und Harry stehen an der gläsernen Flügeltür. Ein Herr vom Personal
bittet uns, ihm zu folgen. Dieser erste Augenblick des Eintauchens in die
Masse der Gäste ist für mich unangenehm. Auf zu viele Personen muss ich
achten und keine darf ich übersehen, die mir auf einer der vergangenen
Partys vorgestellt wurde. Wir gelangen nur langsam vorwärts. Der Kellner
wartet ungeduldig an unserem Tisch und hilft Silvia und mir, die Stühle zu
rücken. Harry setzt sich zu uns an den Vierertisch. Er hatte sich im Auto
eine Smoking Jacke angezogen und niemand würde in ihm einen Personenschützer
oder Fahrer vermuten. Silvia lächelt ihm freundlich zu. Sie ahnt, dass er
ihr Abendpartner sein wird. Wein wird serviert. Das Essen war schon bei der
Bestellung des Tisches festgelegt worden. Ein Ober bringt die Speisen. Für
Silvia habe ich das gleiche Menü ausgewählt, wie für mich. Sie scheint
zufrieden zu sein. Es schmeckt ihr.
Nach dem Essen beginnt das Abendprogramm. Eine der bekanntesten Bands
spielt Lieder und es kann getanzt werden. Ich weiß, dass Gehao nichts davon
hält und folge ihm zu der großen Bar, wo sich alle Nichttänzer einfinden.
Harry fordert Silvia auf, mit ihm zu tanzen. Ich stehe gelangweilt herum und
unterhalte mich mit ebenso benachteiligten Ehefrauen, deren Männer lieber
einen Whisky trinken als das Tanzbein schwingen. Harry und Silvia scheinen
sich gut zu verstehen. Ich bedaure, dass ich nur zusehen kann. Ein junger
Mann, den ich noch nie gesehen habe, kommt an die Bar und fragt meinen Mann,
ob er mich zum Tanz auffordern darf. Er nickt ihm zu und ich hake mich bei
dem Herrn ein. Nach drei Musikstücken folgt eine Pause. Er bringt mich an
die Bar zurück. Artig bedankt er sich bei mir und fragt, ob er mich nach
Beendigung der Pause erneut zum Tanz auffordern darf. Gehao zeigt keine Spur
von Eifersucht. Das wundert mich. Während der nächsten Tanzrunde versuche
ich meinen netten Tanzpartner auszufragen. Ich erfahre nicht viel. Er ist
mit seinem Vater hier, der in Gehaos Bankfiliale arbeitet. Er studiert zur
Zeit Finanz- und Betriebswirtschaft und ist im dritten Semester. Seine
Eltern sind geschieden und er ist über die Feiertage zu Besuch bei seinem
Vater. Mir ist jetzt klar, dass der junge Mann extra für mich engagiert
wurde, damit ich mich nicht an der Bar langweilen muss. Als Silvia und Harry
eine Pause machen und sich an den Tisch setzen, gehe ich zu ihnen. Harry
zieht sich diskret zurück, um meiner Freundin und mir die Möglichkeit zu
geben, unter vier Augen zu sprechen. Er hat großes Taktgefühl und weiß, was
Frauen mögen.
Silvia ist begeistert von unserem Fahrer und kommt ins Schwärmen. Ich
versuche ihre Euphorie zu dämpfen und verrate ihr, dass Harry über 50 Jahre
ist und Frauen nur ausnutzt. Sie möchte, dass ich ihr das näher erkläre. Ich
halte mich zurück.
Gehao hat mehrere Geschäftsfreunde getroffen. Er unterhält sich an der
Bar angeregt mit ihnen. Es sind noch zwei Stunden bis zum Jahreswechsel.
Ich wundere mich, dass die ersten Gäste gehen. Die Musik wird ihnen nicht
gefallen oder sie müssen noch zu einer anderen Veranstaltung, denke ich mir.
Harry steht neben meinem Mann und flüstert ihm ins Ohr. Gehao kommt zu uns
an den Tisch und bittet uns, ihm zu folgen. Wir gehen zum Ausgang und nehmen
unsere Mäntel an der Garderobe entgegen. Erst im Auto erklärt er, warum wir
fluchtartig das Restaurant verlassen haben. Die Hotelleitung erhielt einen
anonymen Anruf, dass im Hotel eine Bombe versteckt ist, die um 24 Uhr
explodieren soll. Die Polizei hat angewiesen, das gesamte Hotel zu
evakuieren. Wenige Gäste wurden informiert, damit keine Panik ausbricht und
alle gleichzeitig zu den Aufzügen oder zum Treppenhaus laufen.
Gehao beschließt, nach Hause zu fahren und dort das neue Jahr zu
beginnen. Er lädt Silvia ein, mitzukommen. James und Isabelle sind
überrascht, dass wir zurück sind. Gehao zieht sich in die Bibliothek zurück.
Er hört klassische Musik und blättert in einem Bildband.
Ich zeige Silvia unsere Terrasse und die Orangerie, die hell erleuchtet
ist. Sie ist begeistert davon. Ich bitte James, dass er das gesamte
Dienstpersonal informiert, sich im Wohnsalon einzufinden. Ich möchte mit
allen gemeinsam in das neue Jahr hinein feiern. Es scheint das erste Mal zu
sein, dass sie zum Jahreswechsel eingeladen werden. Im Fernsehen läuft eine
Show und wir trinken Sekt. Kurz vor dem Jahreswechsel gehen wir gemeinsam
auf die Terrasse und sehen uns das Feuerwerk an. Gehao hat sich uns
angeschlossen. Unzählige Raketen werden in den Straßen und Plätzen
abgeschossen. Um null Uhr beginnen die Glocken zu läuten. Wir stoßen mit
Sekt auf das neue Jahr an und wünschen uns viel Glück.
Von einer Explosion in dem Hotel, das wir verlassen mussten, habe ich
nichts entdecken können. Bei dem allgemeinen Lärm durch die Böller hätten
wir den Knall wahrscheinlich überhört. Ob die Polizei die Bombe finden
konnte? Harry meint, dass es ein böser Streich eines Verrückten war, der
damit Geld erpressen wollte.
„Dies ist mein goldener Käfig. Würdest du mit mir tauschen wollen?“,
frage ich sie.
„Ich weiß nicht!“
„Du könntest viel reisen, brauchtest nicht mehr zur Arbeit gehen und dir
alles kaufen was du magst. Ist es nicht das, was sich eine Frau am meisten
wünscht?“
Silvia sieht mich skeptisch an.
„Ich nehme an, dass dir ein solches Leben nicht geschenkt wurde. Ich
könnte nicht mit einem Mann zusammenleben.“
„Findest du Gehao mit seinem entstellten Gesicht zu abstoßend?“, will ich
wissen.
„Es hat nichts mit deinem Mann zu tun. Sein entstelltes Gesicht wäre für
mich kein Grund.“
„Was ist es?“
„Ich bin eine Lesbe!“
Erschrocken ziehe ich meine Hand zurück. Ich nahm an, dass sie nicht
ausschließlich auf Frauen steht.
„Warum hast du dich mit mir eingelassen? Ich bin keine Lesbe. Du weißt,
dass ich seit einem halben Jahr verheiratet bin.“
„Es stört mich nicht. Ich fordere nichts von dir, deine Liebe genügt
mir!“
Silvia streicht mit den Fingern über meine Wangen.
„Wie denkst du, dass es mit uns weitergeht?“, möchte ich wissen und sehe
ihr in die Augen.
„Ich mache mir keine Gedanken darüber. Es kommt, wie es kommen soll. Du
bist bisexuell und das genügt mir. Ich werde mich nicht zwischen dich und
deinen Mann stellen.“
Mit dem Begriff „bisexuell“ kann ich nur wenig anfangen. Was sich
zwischen Silvia und mir seit unserer gemeinsamen Reise nach Nürnberg vor ein
paar Wochen entwickelt hat, ist für mich Neuland. Mir kommt es vor als
befände ich mich in einem Traum. Sie nimmt mich in ihre Arme und küsst mich
auf den Mund.
Isabella kommt in mein Zimmer und hält erschrocken die Hand vor den Mund.
Ich hatte ihr Klopfen nicht gehört. Wie erstarrt steht sie in der Tür. Ich
bitte sie, mir den Morgenmantel zu reichen. Ihre Erstarrung weicht und sie
eilt in das Bad. Silvia hilft mir beim Aufstehen. Isabella reicht mir den
Mantel.
„Kann ich ihnen helfen, Madam?“, fragt sie mich mit zitternder Stimme.
„Ja! Du kannst uns ein Glas Sekt bringen.“
Eilig verschwindet sie aus dem Zimmer.
„Ich glaube dein Zimmermädchen ist mehr erschrocken als du“, bemerkt
Silvia.
„Sie ist einfältig und wird, was Sie gesehen hat, nicht deuten können.
Ich hoffe, dass Sie nicht darüber redet.“
„Sprich mit ihr, wenn Sie hereinkommt“, meint Silvia.
Isabella erscheint mit zwei vollen Sektgläsern. Sie ist aufgeregt. Ich
sehe es ihrem hochroten Gesicht an. Wie kann ich sie beruhigen? Mit
zitternden Händen stellt sie die Sektgläser auf dem kleinen Tisch ab und
schickt sich an zu gehen.
„Isabella, bitte sage mir, was du vorhin in meinem Zimmer gesehen hast!“,
fordere ich sie im ernsten Ton auf, zu sprechen.
„Nichts Madame!“
„Sag mir die Wahrheit!“, fordere ich sie auf.
„Ich habe gesehen, dass Sie auf dem Bett lagen und Frau Silvia über
ihnen.“
„Das ist richtig. Ich wollte ein anderes Kleid anziehen und mir wurde
schwindlig. Ich bin zum Glück ins Bett gefallen und habe mir nicht
wehgetan.“
Isabella hebt die Augenbrauen.
„Madame Silvia hat ihnen beim Aufstehen geholfen“, kombiniert sie
bedächtig.
„Es war wie du sagst! Du kannst jetzt gehen und sprich nicht mit deiner
Mutter darüber. Ich möchte nicht, dass Sie sich um mich Sorgen macht. Sie
könnte denken, dass ich krank bin.“
Isabella nickt heftig und verschwindet aus dem Zimmer.
„Mit dem Sturz hast du eine großartige Idee gehabt. Das wäre mir nicht
eingefallen. Jetzt kann sich dein Zimmermädchen die Situation leichter
erklären und wird keine schlaflosen Nächte haben“, bemerkt Silvia
anerkennend. Gern würde ich dort fortfahren, wo wir gestört wurden. Silvia
rät mir jedoch zu den anderen in den Salon zu gehen.
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