Leseprobe:      Ein Ticket nach Shanghai    (1. Kapitel)    
         
         
         
   

<< 1 >>

 

 

 

 

 

Wien, Gloriette

 

  

   
   

Der Regen peitscht gegen die hohen Scheiben des Großraumbüros. Ich sitze vor dem Computerschirm und drehe mich zur Seite. Der Blick aus dem Fenster entspannt die Augen. Sie brennen, wenn ich mehrere Stunden auf den leicht flackernden Bildschirm meines CAD-Arbeitsplatzes starre.

Ich sehe über die Dächer von Wien. In der Ferne liegt die Gloriette auf einem Hügel und darunter ist das Dach des Schlosses Schönbrunn zu erkennen.

Mit meiner Mutter bin ich früher, an den Sonntagen, durch den Schlosspark gegangen. Der Vater musste arbeiten und wollte nicht gestört werden. Er ist selbständig und an den Wochenenden erledigt er Dinge, zu denen er an den Arbeitstagen keine Zeit findet. Weiter rechts liegt der Lainzer Tierpark, für den einst der „Arme Schlucker“ die Mauer gebaut hatte. Er war Baumeister und gab das beste Angebot ab. Finanziell soll er sich dabei übernommen haben. Kaiser Josef II. schenkte ihm in seiner grenzenlosen Güte das Bergwirtshaus in Alland mit zugehörigem Grundbesitz. Nicht schlecht!

Es ist eine schöne Geschichte und zeugt vom Wohlwollen der Obrigkeit.

Heute ist es in unserem Projektgeschäft nicht anders als früher. Das billigste Angebot bekommt in der Regel den Zuschlag. Bei schlechter Kalkulation kann das zum Ruin der Firma führen. Gut, dass ich in einem der großen Schlachtschiffe der Industrie tätig bin. Es bewegt sich träge im Wasser. Größere Wellenberge können ihm nichts anhaben. Viele Projekte ziehen sich über mehrere Jahre hin.

 Die Augen entspannen sich beim Anblick des vielen Grüns und ein Seufzer kommt über meine Lippen. Ich blicke auf meinen CAD-Arbeitsplatz. Die Abkürzung CAD steht für den englischen Begriff „Computer-aided design“, das bedeutet Computer-unterstütztes-Konstru-ieren oder Zeichnen.

Ein Schreibtisch mit großem Bildschirm, davor ein Tablett und eine Tastatur sind alles, was ich als Arbeitsmittel benötige. Der Computerarbeitsplatz ist mit allen Rechnern der Konstruktionsabteilung vernetzt. Es ist leicht auf Zeichnungen anderer Projekte zuzugreifen, wenn es notwendig ist.

Das Bild des Konstrukteurs hat sich in den letzten Jahren gewaltig verändert. Als ich vor sechs Jahren in der Firma NILE zu arbeiten begann, standen in meinem Großraumbüro unzählige Zeichenmaschinen. Heute gibt es nur noch wenige davon. Ein paar ältere Kollegen können sich nicht von ihnen trennen. Einen Vorteil haben die Dinger. Wenn ein Besucher kommt und eines dieser antiquarischen Wunderwerke sieht, weiß er, dass er sich in einer Konstruktionsabteilung befindet.

Mein unmittelbarer Kollege, Alfred Neumann, gehört zu denen, die sich nicht von ihrer Zeichenmaschine trennen können. Hin und wieder steht er davor und bewegt die Scheren- und Parallelogramm-Führungen über einer fertigen CAD-Zeichnung. Hier und dort ein kleiner Strich und ein zufriedenes Lächeln gleitet über sein Gesicht. Diesen verzückten Ausdruck habe ich bei ihm niemals gesehen, wenn er vor dem Bildschirm saß.

Mit Alfred wurde ich vor sechs Jahren zu einer Einheit verschmolzen. Ich hatte keine Wahl und er wahrscheinlich auch nicht. Wie in einer Zwangsehe mussten wir das Beste daraus machen. Er teilt mir seitdem alle Arbeiten zu. Anfangs waren es nicht die Angenehmsten, die sich ein Absolvent einer Höheren Technischen Lehranstalt wünscht. Ich musste Zeichnungen ordnen, technische Beschreibungen kopieren, Bauteile aus verschiedenen Katalogen heraussuchen und, und, und. Es war eine langweilige Tätigkeit, doch irgendwer musste sie tun.

Drei Jahre halte ich durch, sagte ich mir damals. Erst nach dieser Zeit der Praxis bekam ich den Ingenieurtitel verliehen. Dieses kleine Anhängsel zu meinem Namen war mir ungeheuer wichtig. Ob es eine österreichische Erscheinung ist, kann ich nicht sagen. Es hob mich von der Masse der Menschen in meinem Umkreis ab. Seitdem ich mich „Ingenieur“ nennen darf, begegnet man mir freundlicher und meine geäußerten Meinungen finden mehr Beachtung.

Bei den Ämtern und Ärzten werde ich seitdem nicht mit meinem Namen aufgerufen, sondern mit „Herr Ingenieur“. Eine erhoffte Bevorzugung konnte ich nicht feststellen. Überall muss ich genauso lange warten wie die anderen. Bleibt mir somit nur die Befriedigung der Eitelkeit.

Da mich die Hilfsarbeiten im ersten Jahr nicht sonderlich interessierten, sah ich in den Pausen den anderen Konstrukteuren über die Schulter. Von ihnen lernte ich viel. Als Alfred mitbekam, dass ich geschickt mit dem Computer umging, gab er mir häufiger Aufgaben, die kompliziert waren und schnell mit diesem Hilfsgerät erledigt werden konnten. Die Arbeit machte Spaß und das war mir wichtig.

Alfred wurde mit der Zeit immer abhängiger von meinen Leistungen. Er erkannte es und seitdem verbesserte sich sein Ton mir gegenüber. Das Wort „Bitte“ kam jetzt manchmal über seine Lippen.

Gegenüber unserem Abteilungsleiter trat nur er in Erscheinung und für meine gute Arbeit erntete er allein das Lob. Es störte mich nicht, solange ich mich nicht mit den Hilfsarbeiten abgeben musste. Die konnte ich aus Kapazitätsgründen nicht mehr erledigen und Alfred übernahm sie. Das war mir eine innere Genugtuung.

 Der Rechner braucht lange, um meine zuletzt bearbeitete Zeichnung am Schirm aufzubauen. Nervös trommle ich mit den Fingern auf die Tischplatte.

Mein Telefon summt. Ich greife zum Hörer und melde mich.

„Guten Tag! Hier Firma NILE, Peter Pichler, was kann ich für Sie tun?“

Gespannt lausche ich, wer sich am anderen Ende der Leitung meldet.

Es ist die Sekretärin, die sich kurz hält.

„Der Chef möchte Sie in einer halben Stunde sprechen!“

Ein solcher Anruf bedeutete nichts Gutes. Was will der Abteilungsleiter von mir? Warum lässt er nicht Alfred zu sich kommen?

Es muss etwas Persönliches sein. Eine kleine Gehaltserhöhung kommt nicht in Frage, die hatte ich erst vor drei Monaten erhalten. Wenn es nicht die Projektarbeiten und das Gehalt sind, bleibt nur eines übrig, die Kündigung.

Böses schwant mir.

Meine Kollegen erzählten vor ein paar Tagen am Mittagstisch in der Werkskantine, dass mit einer größeren Entlassungswelle zu rechnen ist. Welche Abteilungen davon betroffen sind, wusste niemand.

Dieses Damoklesschwert schwebt jederzeit über den Köpfen aller Mitarbeiter. Unwillkürlich sehe ich nach oben. Über mir hängt nur eine Leuchtstofflampe.

Wen kann ich jetzt anrufen und eine Auskunft bekommen?

Der Betriebsrat müsste es wissen. Er segnet jede Entlassung ab.

Meine Nervosität nimmt zu. Lauter wird das Trommeln mit den Fingern auf der Schreibtischplatte.

„Was ist mit dir? Hast du nichts zu tun?“, ruft mir Alfred von seinem Platz aus zu. Verärgert sehe ich ihn an und unsere Blicke kreuzen sich.

„Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen! Sag, was los ist!“, setzt er nach.

„Ich soll zum Chef kommen. Weißt du, was er von mir will?“

„Na, abstechen wird er dich wollen“, entgegnet Alfred lachend.

„Blöder Kerl!“, entfuhr es mir unbedacht.

Alfred lacht und es scheint ihn zu freuen, wie sorgenvoll ich dreinschaue.

Ich starre auf die Zeichnung am Bildschirm. Es ist mir nicht möglich, mich zu konzentrieren und weiter zu arbeiten. Verärgert stehe ich auf und gehe in Richtung des Kaffeeautomaten. Er befindet sich am Ende des Gangs, der zu dem Großraumbüro führt. Zwei Bistrotische stehen an der Wand mit leeren Plastikbechern, die irgendwer nicht weggeräumt hat. Ich stecke eine Wertmarke in den Schlitz des Automaten und drücke die Taste für Kaffee. Ein Becher rutscht in die Halterung und verklemmt sich. Die heiße Brühe plätschert daneben.

„Pech gehabt!“, vernehme ich hinter mir eine bekannte Stimme. Es ist ein Arbeitskollege, den ich zu meinen Freunden zähle. Wir sind gleichaltrig und zur selben Zeit in die Firma gekommen.

„Die sollten endlich einen besseren Automaten aufstellen. Wenn unsere Anlagen so funktionierten, wie diese Kiste, wären wir schon lange pleite“, bemerke ich verärgert.

„Male den Teufel nicht an die Wand und sprich dieses verdammte Wort nicht aus!“

„Welches meinst du?“

„Na ‚Pleite‘! Die Firma, bei der ich nach der Schule angefangen hatte war gut und ist trotzdem eingegangen.“

„Es muss einen Grund gegeben haben, dass es passierte.“

„Die Wirtschaftslage war schlecht und keiner wollte unsere Sachen kaufen.“

„Das kann uns bei NILE nicht passieren. Unsere Anlagen sind in der ganzen Welt gefragt“, erwidere ich auftrumpfend.

„Es gibt keine absolute Sicherheit. Hast du von dem Gerücht gehört, dass hundert Leute entlassen werden sollen?“

„Hin und wieder spricht man davon. Es ist nur Geschwätz“, beschwichtige ich unsicher.

Den eingekeilten Plastikbecher ziehe ich aus der Halterung und werfe ihn in die Abfallbox neben dem Automaten.

Ein neuer Versuch.

Die zweite Wertmarke löst den Mechanismus aus und platziert den Becher falsch. Geschwind greife ich zu und korrigiere ihn in der Halterung. Ich war nicht schnell genug. Der Kaffee fließt aus dem wurmfortsatzähnlichen Rohrstück über meine Finger.

„Autsch!“, rufe ich vor Schmerz und sehe, wie mein Freund sein Grinsen zu verbergen sucht.

Er ist der Nächste. Ich bin gespannt, wie er sich anstellt.

Er legt seine Hand gleich an die Fallöffnung für die Becher und greift zu.

„Du hast schnell gelernt!“, bestätige ich ihm anerkennend.

„Das habe ich von den Affen im Zoo abgeschaut, die halten minutenlang ihre Hand unter den Futterautomaten. Wer ausharrt, wird belohnt. Die Ungeduldigen gehen leer aus.“

„Haha! Bin ich ein Affe?“

„Etwa nicht!“

Ich bin im Moment nicht zum Scherzen aufgelegt. Mein Freund bemerkt es und schweigt. Vorsichtig schlürfen wir unsere Kaffeebrühe. Sie schmeckt so schlecht wie sie aussieht. Wahrscheinlich kommt der Automat aus Deutschland. Die wissen nicht, wie man einen guten Kaffee macht.

„Du wirkst nervös. Hast du Ärger mit deinem Projekt?“

„In der nächsten halben Stunde soll ich zum Chef kommen.“

„Warum?“

„Wenn das Gerede über Entlassungen stimmt, bin ich einer der Ersten, der gehen muss.“

„Mach dich nicht heiß! Ich habe das alles hinter mir, in der alten Firma.“

„Wie ist es dir damit ergangen?“

„Sauschlecht! Wenn ich daran denke, wird mir noch heute übel.“

„Da siehst du, wie ich mich im Moment fühle. Du kennst unseren Betriebsrat. Lässt der nichts durchsickern?“

Mein Freund senkt den Blick.

„Ich hörte, dass aus unserer Abteilung zwei gehen müssen. Wer es sein wird, ist nicht bekannt.“

Das Blut schießt mir in den Kopf. Mir wird schwindlig. Ich suche Halt an der wackligen, runden Tischplatte.

„Ist dir nicht gut?“, fragt mein Freund und fasst mich an der Schulter.

„Wahrscheinlich bin ich einer der beiden Abschusskandidaten.“

„Das glaube ich nicht. Du steckst mitten in einem Projekt und machst die ganze Arbeit. Eher könnte es Alfred treffen als dich.“

„Zuerst werden die Jungen entlassen, die noch keine Familie zu versorgen haben und zuletzt kommen die Älteren und Verheirateten dran. Ich gehöre zu den Jüngsten, da kann ich gleich meine Sachen packen.“

„Alter bleib cool! Mach dir nicht ins Hemd weil du zum Chef musst!“

Aus seiner Hosentasche zieht er eine kleine Dose hervor, in der sich Tabletten befinden.

„Hier nimm eine davon! Sie sind ungefährlich. In einer solchen Situation helfen sie.“

„Ist das Stoff?“

„Das sind nur Reisetabletten fürs Fliegen.“

Ich nehme eine und spüle sie mit einem Schluck Kaffee hinunter.

„Wann fängt das Zeug an zu wirken?“

„Bei mir sofort. Wenn du erst in einer halben Stunde hin musst kann nichts schiefgehen.“

„Hat das Zeug Nebenwirkungen?“

„Mich beruhigen sie nur. Manche bekommenen Durchfälle oder schlafen auf der Stelle ein.“

„Das fehlt mir noch!“

 Eilig gehe ich zurück zum Arbeitsplatz.

Alfred steht vor meinem Bildschirm und starrt auf die Zeichnung.

„Wo warst du die ganze Zeit? Die Sekretärin hat mich angerufen. Du sollst gleich kommen. Worum geht es?“

„Du hast mir gesagt, dass ich abgestochen werde. Ich habe mir einen letzten Kaffee gegönnt.“

Verärgert geht Alfred zu seinem Tisch. Ihm scheint es jetzt auch nicht geheuer zu sein, dass mich der Chef sehen will. Eventuell glaubt er, dass es um meine Entlassung geht und er in der Zukunft allein die Arbeiten bewältigen muss. Ein wenig Schadenfreude überkommt mich bei dem Gedanken.

Das Büro des Chefs liegt auf der anderen Seite des großen Saals. Es ist verglast. Der Abteilungsleiter kann den ganzen Konstruktionsraum jederzeit überblicken. Gegenüber seiner Tür hat die Sekretärin ihren Tisch und verschiedene Schränke für Ordner.

Sie bittet mich gleich in die Glaskabine zu gehen.

Die Reisetablette scheint zu wirken. Nichts regt mich auf. Mit der Entlassung habe ich mich abgefunden und Schlimmeres kann es nicht geben. Der Abteilungsleiter sitzt an seinem Schreibtisch und deutet mir mit einer Handbewegung an, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Mit einem Signierstift streicht er wie wild Textstellen in einem Projektbericht an. Ich setze mich auf den angebotenen Stuhl und sehe ihm zu.

Herr Müller ist ein korpulenter Mann in den mittleren fünfziger Jahren. Er lässt sich von meiner Anwesenheit nicht beirren. Es ist möglicherweise die Retourkutsche für mein verspätetes Kommen.

Er überfliegt die letzte Seite des vor ihm liegenden Berichtes. Ich überlege, wie lange er mich noch unbeachtet warten lässt.

Langsam hebt er den breiten Kopf und sieht mich wie geistesabwesend durch seine auffällige, dunkle Hornbrille an. Ich komme mir vor, wie die Maus vor der Schlange. Er fixiert mich als Opfer.

Wird er zubeißen?

Dank der Tablette verliere ich nicht die Fassung und zwinge mich zu einem freundlichen Lächeln.

„Guten Morgen, Herr Müller, Sie wollen mich sprechen?“, beginne ich in ruhigem Ton.

„Morgen“, antwortet er kurz und betrachtet noch einmal die letzte Berichtsseite.

Es entsteht eine Pause, die ich unangenehm empfinde und überlege ob ich etwas sage, um die beklemmende Stille zu unterbrechen. Mein Chef legt den Bericht zur Seite und sieht mich an. Sein Blick ist nicht mehr abwesend.

„Ja, es gibt einiges zu besprechen“, beginnt er die Unterhaltung und reibt sich nachdenklich die Schläfen.

Mich kann nichts erschüttern. Müdigkeit und ein Drücken im Bauch als Nebenwirkungen der Tablette bemerke ich und hoffe, dass der Chef gleich zur Sache kommt.

Er zögert und sucht nach passenden Worten.

„In sechs Wochen fährt Herr Toni Schuster nach China und startet mit den Inbetriebsetzungsarbeiten für das große Projekt in Hongping, für das Sie die meisten Zeichnungen erstellt haben. Ich dachte mir, dass es nicht schlecht wäre, wenn Sie ihm vor Ort über die Schultern schauen und bei seiner Arbeit mithelfen. Sollte ihnen die Arbeit zusagen, könnten Sie eventuell den dritten Maschinensatz selber zum Laufen bringen und Herr Schuster kann für ein neues Projekt eingesetzt werden.“

Damit habe ich nicht gerechnet. Das ist eine echte Überraschung.

Trotz Tablette kann ich meine Erregung schwer verbergen. Es freut mich, eine solche Chance zu bekommen. Ob ich dies packen werde? Sicher bin ich mir nicht. Zum Glück soll ich vorerst dem Toni über die Schultern sehen. Er würde die Verantwortung für das Gelingen der Inbetriebsetzung tragen. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken.

Das Zögern bemerkt mein Chef. Er setzt sogleich hinzu: „Wenn es aus irgendwelchen persönlichen Gründen bei ihnen nicht geht, sehen wir uns nach einem anderen Mitarbeiter um. Es wäre besser, wenn Sie fahren würden, da Sie die Anlage aus den Zeichnungen bestens kennen und keine Einarbeitungszeit benötigen. Sie müssen sich nicht gleich entscheiden. Überlegen Sie es sich in Ruhe bis morgen früh!“

Was soll ich jetzt tun?

Es wird besser sein, gleich zuzusagen. Was einmal beschlossen ist, kann mir kein anderer wegnehmen.

Die Chance, sich als Inbetriebsetzer weiterentwickeln zu können, wird mir nicht ein zweites Mal geboten. Ich wage den Sprung ins tiefe Wasser.

„Ihr Angebot nehme ich an und freue mich auf die neue Aufgabe“, sage ich in festem Ton.

Der Hauch eines Lächelns gleitet kurzzeitig über das Gesicht des Chefs.

„Schön, dass Sie sich schnell entschieden haben. Schließen Sie ihre Arbeiten ab! Ich spreche mit Herrn Schuster. Der wird ihnen die neuen Aufgaben zuweisen. Gibt es noch Fragen?“

„Im Moment nicht“, erwidere ich verhalten.

Herr Müller nickt und gibt mir zu verstehen, dass dies alles ist was er mit mir besprechen wollte.

 Ich verlasse den Glaskasten und eile zur nächsten Toilette. Viel länger hätte die Unterredung beim Chef nicht dauern dürfen. Der Druck lässt mich fast zerbersten. Nebenan in den Kabinen wird es unruhig. Abfällige Bemerkungen über den Gestank und die Geräusche aus meiner Zelle sind zu hören. Niemand hat mich gesehen und keiner weiß, wer der Verursacher ist. Ich darf nur nicht sprechen. Meine Stimme könnte erkannt werden. Jetzt muss ich nicht den Drang, sondern das Lachen unterdrücken. In meiner Kabine sitze ich geschützt und anonym. Es ist ein sicheres Gefühl, das kein anderer Ort vermittelt.

Fluchtartig verlassen die unbekannten Sitzungsteilnehmer den Toilettenraum und ich habe meine Ruhe.

Die letzte Viertelstunde lasse ich Revue passieren. Mit einer Kündigung habe ich gerechnet und als ein zukünftiger Inbetriebsetzer betrete ich die Arena. Überglücklich sehe ich mein neues Berufsbild vor mir. In Zukunft werde ich neue Anlagen zum Laufen bringen. Neidvoll hatte ich früher den Kollegen zugehört, die im Auslandseinsatz waren. Wie Vagabunden ziehen sie von einem Projekt zum anderen und lernen viele Länder kennen. Sie sehen mehr als die Touristen mit ihren rosaroten Brillen. Unbewusst war es seit langem mein Traum, zu ihnen zu gehören. Jetzt stehe ich vor dem Tor das in ihr Reich führt.

 Ich gehe zu meinem Arbeitsplatz zurück. Alfred fragt neugierig was los ist.

„Ich soll hier aufhören und meine Arbeiten beenden“, antworte ich kurz.

„So eine Schweinerei! Wer macht die Zeichnungen?“

„Das ist dein Problem!“

„Die können dich nicht rausschmeißen, wir stecken mitten in einem Projekt.“

Jetzt trommelt Alfred nervös mit den Fingern auf der Schreibtischplatte herum. Er nimmt an, dass ich gekündigt wurde. Ich lasse ihn in dem Glauben und es bereitet mir große Freude, ihn fassungslos zu sehen.

Verärgert setzt sich Alfred vor seinen CAD-Bildschirm und starrt wütend darauf. Ich arbeite an meinem Stromlaufplan weiter und überlege mir, welche Zeichnungen ich noch fertigstellen muss.

Verstohlen sieht Alfred von seinem Platz zu mir hin. Er wundert sich, dass ich emsig weiter werke. Es ist kurz nach drei und Alfred sieht auf die Wanduhr. Er steht auf, schaltet seinen Computer aus und sagt mir, dass er nach Hause geht.

Ich nicke ohne ihn anzusehen.

Die Kollegen in seiner Nachbarschaft sehen ihm verwundert nach. Normalerweise zählt er zu den Letzten, die das Büro abends verlassen.

Einer ruft mir zu: „Was ist mit Alfred? Hast du ihn verärgert?“

„Er hat nur erfahren, dass ich ihn verlasse.“

Schadenfrohes Lachen ist von den anderen zu hören.

„Hast du gekündigt?“, wollen sie wissen.

„Ich werde Inbetriebsetzer!“

„Hallooo! Das ist ein Grund zu feiern. Erzähl es uns bei einem Kaffee, den du spendierst!“

 Gern nehme ich an und wir gehen zu viert zum Automaten. Ungeduldig wollen die Kollegen wissen, was passiert ist. Ich muss mich zunächst auf die richtige Lage der Plastikbecher konzentrieren. Ohne Panne gelingt es mir die gefüllten Becher auf einen der Tische zu stellen.

Ich erzähle von dem Angebot und dass ich zugesagt habe. Alle gratulieren mir und ihre Wünsche scheinen aufrichtig zu sein.

„Warum zeigt sich Alfred komisch? Freut er sich nicht mit dir?“

„Er denkt, dass ich gekündigt wurde und er ab jetzt die ganze Arbeit allein erledigen muss.“

„Das schadet diesem Scheusal nicht. Er hat es immer verstanden, dass andere für ihn die Arbeit machen. Bist du jemals von ihm gelobt worden für das, was du gehackelt hast?“

„Darauf lege ich keinen Wert. Er tut sich schwer, ein Lob auszusprechen.“

Alle reden über Alfred als wäre er die fieseste Gestalt mit denen sie zu tun hatten. Ich sage nichts. Es ist maßlos übertrieben, wie sie ihn schildern. Er hat seine Eigenheiten, mit denen ich mich im Laufe der Zeit arrangieren musste. Vielleicht liegt es daran, dass er eine Generation älter ist und das Verständnis von beiden Seiten zueinander fehlt.

Haarsträubende Geschichten werden über ihn berichtet. Jeder hat seine Erfahrungen mit ihm gemacht und um die Erzählung hörenswerter und interessanter zu gestalten, werden die Tatsachen mit eigenen Kompositionen ausgeschmückt. Vieles von dem, ist mir bekannt. Manches hatte mir Alfred aus seiner Sicht des Geschehens berichtet. Das hörte sich anders an.

Am liebsten würde ich Alfred in Schutz nehmen. Im Moment interessiert es mich nicht, was die anderen über ihn sagen. Meine Gedanken sind bei dem, was mich in der Zukunft erwartet und was ich mir erhoffe. Die Kollegen bemerken nicht, dass ich mich nicht an dem Gespräch beteilige. Jeder ist bemüht, mit seiner Erzählung gegenüber den Freunden zu glänzen. Kein gutes Haar wird an Alfred gelassen. Ein inneres Unbehagen baut sich in mir auf. Die Kollegen sprechen hier über jemand, der sich nicht rechtfertigen kann.

„Habt ihr schon den Osterhasen gesehen?“, werfe ich in die Gesprächsrunde.

Erstaunt sehen mich alle an und verstummen für einen kurzen Moment.

„Was soll das Oida, was hat Alfred mit Ostern zu tun?“

„Ich wollte nur auf ein anderes Thema umlenken. Alfred ist nicht so interessant, dass man nur über ihn sprechen muss“, bemerke ich.

„Du hast recht, man dürfte kein einziges Wort über ihn verlieren. Ich werde seinen Namen aus meinem Gedächtnis streichen und es wie Dschingis Khan machen. Der soll einst die feigen Krieger geköpft haben und keiner durfte ihre Namen nennen.“

„Wo hast du das her?“, hinterfrage ich.

„Ich habe es in einem Buch gelesen!“

„Du kannst lesen?“

Lautes Gelächter folgt und die Gesichter hellen sich auf.

Der Osterhase und die Ostereier werden wieder interessant.

„Apropos Häschen, da muss ich euch eine tolle Story vom letzten Wochenende erzählen“, beginnt einer der Freunde und alle spitzen die Ohren.

Die Geschichten über die zweibeinigen Hasen gefallen mir besser als die alten Kamellen über Alfred.

Es gibt gute und schlechte Zeiten mit ihm. In ein paar Jahren werde ich das Schlechte vergessen oder verdrängt haben.

 Wir gehen zurück zu unseren Arbeitsplätzen und werken weiter. Es gibt für mich viel zu tun. Die Zeichnungen müssen bald fertig sein. Ich erstelle eine Excel-Tabelle, in der ich die abzuschließenden Aufgaben aufliste. Mit dem geschätzten Fertigstellungsdatum versehen, bekomme ich einen Überblick, wann ich frühestens fertig bin. Vor dem Endtermin werde ich meine neuen Aufgaben in der Inbetriebsetzungsabteilung nicht beginnen können. Der Abschluss aller offenen Arbeiten ist Voraussetzung für den neuen Job.

 Mein Telefon summt. Ich fühle mich gestört und melde mich mürrisch. Annett, meine Exfreundin, will mich sprechen. Ich sage ihr, dass ich sie gleich zurückrufe.

Was will sie von mir?

Ihre Stimme klang aufgeregt. Wir sind seit einem halben Jahr auseinander. Sie hatte Schluss gemacht, da sie einen anderen kennengelernt hatte, der angeblich nicht so langweilig ist, wie ich. Den Kontakt zu mir ließ sie trotzdem nicht abbrechen. Ich treffe mich ab und zu mit ihr in einem Kaffeehaus oder bei ihr zu Hause. Ihrem neuen Freund scheint es nicht zu stören. Es ist für sie normal und ein Ausdruck persönlicher Freiheit während einer festen Beziehung mit anderen Männern zusammen zu sein. Wenn es sich ergibt, schläft sie mit ihnen. Das erzählte sie mir gleich am Anfang unserer Beziehung. Ich konnte damit nicht leben, da ich eifersüchtig bin und altmodisch über Zweierbeziehungen denke.

 Es fällt mir schwer, mich auf meine Excel-Liste zu konzentrieren. Ich speichere die Datei und rufe Annett zurück. Sie bittet mich, dass wir uns im Café in der Nähe meiner Firma treffen. Es passt mir nicht, doch ich sage zu.

Ich fahre meinen Computer herunter und verlasse das Büro.

 Im Café wartet Annett auf mich. Sie wirkt zerstreut.

Wir begrüßen uns mit einem flüchtigen Bussi. Ich bestelle beim Ober einen Einspänner. Das ist ein kleiner Mokka im Glas mit viel Schlagsahne.

„Was ist passiert?“, komme ich gleich zur Sache.

„Mein Freund will mich verlassen“, antwortet sie verbittert.

„Ich dachte ihr seid ein Herz und eine Seele“, bemerke ich mit einem leicht zynischen Unterton.

„Bis heute war es das auch.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Nein!“, bemerkt sie lapidar.

Ich sehe sie fragend an. Zögernd sucht sie nach den rechten Worten. Mein Getränk wird serviert und genüsslich nippe ich davon.

„Ich bin schwanger und habe es ihm gesagt“, flüstert sie mir zu.

„Wie lange weißt du es?“, frage ich überrascht.

„Seit gestern.“

„Mag dein Freund keine Kinder?“

„Wir hatten nie darüber gesprochen. Jetzt meint er, dass ihm sein Studium wichtiger ist als eine Familie zu gründen.“

„Gib ihm Zeit darüber nachzudenken! Morgen wird er sich besonnen haben“, rate ich ihr.

„Das glaube ich nicht. Er hat mich beschimpft, wie er es zuvor noch nie getan hat.“

Annett unterdrückt die Tränen.

„Willst du das Kind haben?“

„Das möchte ich, doch ohne einen Vater soll es nicht aufwachsen.“

„Es bleibt dir nur die Möglichkeit, mit deinem Freund darüber zu sprechen.“

Resigniert schüttelt Annett den Kopf.

„Es wird keinen Zweck haben. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob er der leibliche Vater ist.“

„Was soll das heißen?“, erwidere ich überrascht.

„Zu der fraglichen Zeit hatte ich nicht nur mit ihm geschlafen.“

„Du nimmst doch die Pille! Wie kann das passieren?“

„Ein paar Tage hatte ich sie weggelassen und da muss es passiert sein.“

„Wie kann dir das passieren?“, sage ich vorwurfsvoll.

„Ich weiß, dass es meine Schuld ist.“

„Du kannst es dir wegmachen lassen“, bemerke ich.

„Spinnst du? Ist das alles, was du mir raten kannst?“, schreit sie mich an und steht auf.

Sie wirft mir einen zornigen Blick zu und verschwindet aus dem Café. Verdutzt sehe ich ihr nach.

Was habe ich Falsches gesagt? Ich kann es mir nicht erklären.